Von Gastautor Bernd Braun
Zusammenfassung:
Anhand einer historischen Quelle wird der Gebrauch des Metronoms in der ersten Hälfte des 19. Jh. nachgewiesen. Es wird beschrieben, dass er sich vom heute üblichen Gebrauch unterscheidet. Dieser „historische“ Gebrauch wird als „Puls-Schlag-Regel“ in die Diskussion eingeführt und vom „naiven“ Metronomgebrauch abgegrenzt. Die Metronombezeichnungen von Robert Schumann in seinen „Kinderszenen“ lassen sich im Lichte diese Quelle in Tempi übertragen, die zu überzeugenden musikalischen Lösungen führen. Die Bedeutung dieses Befundes für die Musik der Beethovenzeit wird angedeutet. Wim Winters (geb. 1972) wird als maßgeblicher Forscher und Autor auf diesem Gebiet der historischen Aufführungspraxis gewürdigt.
Robert Schumann (1810 – 1856) veröffentlichte 1839 seine „Kinderszenen, leichte Klavierstücke“, op. 15. Es sind poetisch verklärte Erinnerungen eines Erwachsenen an die Kindheit. Insbesondere die „Träumerei“ gilt als Inbegriff romantischer Klaviermusik.
Überblickt man Tondokumente der „Kinderszenen“ von Robert Schumann, so findet man, dass die Interpreten die Tempoangaben der Stücke sehr unterschiedlich umsetzen. Nur bei Nr. 7, der „Träumerei“ scheinen sich alle einig. Hier schreibt Schumann 100 Viertelschläge pro Minute vor, aber praktisch immer wird die „Träumerei“ ungefähr im halben Tempo gespielt, offenbar, weil es so am besten zum Titel des Stückes passt. Das direkt folgende Stück Nr. 8 „Am Kamin“ ist mit 138 Viertelschlägen pro Minute bezeichnet. Diese Angabe wird von den meisten Interpreten ernst genommen und ausgeführt. Das gleiche rasche Tempo schreibt Schumann für Nr. 3 vor, den „Hasche-Mann“. Hört man solche Aufnahmen, scheint der Titel des Zyklus „leichte Klavierstücke“ nicht recht zu passen. Auch will sich beim Stück Nr. 12 bei 92 Achtelschlägen pro Minuten das Bild vom „Kind im Einschlummern“ nicht recht einstellen.
Die Metronomangaben Schumanns sind insgesamt unerwartet rasch für eine Sammlung von „leichten Klavierstücken“. Sie lassen keinen Zweifel über die relativen Tempoverhältnisse der Stücke untereinander zu, aber die Tempi scheinen nicht durchgehend zum Charakter der Stücke zu passen. Schumann hat in den erhalten gebliebenen Korrekturfahnen die Metronomzahlen belassen, aber anderes korrigiert. Offenbar hat er die Angaben ernst gemeint und die Tempi so gewünscht. Dieser Befund gibt heute Rätsel auf.
Ein Blick in andere Druckausgaben des frühen 19. Jh. vermehrt die Fragen. Ludwig van Beethoven (1770 – 1827) hat sich sehr positiv über die Erfindung geäußert und hat viele Klaviersonaten und alle seine Sinfonien metronomisiert. Franz Liszt (1811 – 1886) hat alle Sinfonien Beethovens für Klavier bearbeitet herausgegeben und dabei die Metronomangaben Beethovens im Druck beibehalten. Franz Schubert (1797 – 1828) hat seinen „Erlkönig“ im Erstdruck 1821 metronomisiert veröffentlicht. Johannes Brahms (1833 – 1897) schreibt an Clara Schumann (1829 – 1896) im Zuge der Ausgabe von Schumanns Werken: „Notiere doch auch Härtels, daß die Pedal- und Metronom-Bezeichnung in den Kinderszenen zu bleiben hat.“
Es kursieren einige Erklärungen für die Ungereimtheiten bei den Metronomangaben, die mich nicht überzeugen. Mir scheint es nicht vorstellbar, dass Schumanns Metronom defekt war, denn dann hätte es in seinem Umfeld sicher jemand moniert. Im ganzen Kreis um Schumann ist mir keine kritische Äußerung zu den Metronomzahlen bekannt. Clara Schumann sollte das nicht bemerkt haben? Das analoge Argument gilt für Beethovens Metronom. Ich halte die gelegentlich geäußerte Vermutung, der geniale Schöpfer der 9. Sinfonie habe das Metronom falsch abgelesen, für abwegig.
Bis vor wenigen Jahren gab man mit der Vermutung zufrieden, Schumanns Metronom sei defekt gewesen. Dem belgischen Organisten und Vertreter der historischen Aufführungspraxis, Wim Winters, verdanken wir, die plausibelste Lösung des Rätsels aufgezeigt zu haben. Seine Lösung leuchtet mir am meisten ein, denn sie besticht durch ihre Einfachheit: das Metronom wurde zu Schumanns Zeit anders gebraucht als heute.
Die Änderung hat sich offenbar zwischen 1880 und 1910 vollzogen. Das ergibt sich aus der oben bereits erwähnten brieflichen Äußerung von Johannes Brahms an Clara Schumann aus dem Jahr 1879 anlässlich der Ausgabe der Werke von Schumann: „Notiere doch auch Härtels, daß die Pedal- und Metronom-Bezeichnung in den Kinderszenen zu bleiben hat.“ Im Jahr 1915 hingegen urteilte Leopold Godowsky (1870 – 1938) in seiner Ausgabe der Kinderszenen, die Metronomangaben seien „falsch, wegen eines Defekts am Metronom oder Schumanns Unentschlossenheit in Bezug auf das Tempo“. Praktisch alle Quellen im 20 Jh. enthalten ablehnende Äußerungen über die Metronomangaben des 19. Jh., und es wird ihnen jeder Informationsgehalt abgesprochen.
Heute nehmen wir die kleine Note der Metronomangabe als einen Pendelschlag bei der angegebenen Schlagzahl pro Minute. Ein „Tack“ des Metronoms ist ein Achtel, wenn die Angabe lautet: M.M. 72 =
zählen wir 72 Achtel pro Minute.♪
Die Zeitgenossen Schumanns und Beethovens zählten anders. Für diese Behauptung gibt es mehrere Quellen und viele Indizien. Der klarste Beleg dafür ist eine Passage in der Beethoven-Biographie von Anton Schindler (1795 – 1864). Schindler war Beethovens Sekretär. Dass er heute etwas umstritten ist, ändert nichts an der Glaubwürdigkeit der im Folgenden zitierten Stelle der Biographie. Auf Seite 196 der dritten Auflage seiner Beethoven-Biographie, erschienen in Münster 1860, erklärt Schindler nebenbei, fast unabsichtlich und daher besonders glaubwürdig in einer Nebenbemerkung den Gebrauch des Metronoms. Er berichtet über einen geselligen Abend im Jahr 1812 zum Abschied von Nepomuk Mälzel (1772 – 1838), dem Erfinder des Metronoms. Beethoven improvisierte bei dieser Gelegenheit heiter, witzig und „aufgeknöpft“, den nachstehenden Kanon:


Der entscheidende Satz lautet: „Ta ta ta ta sind die Pendelschläge des Metronoms“. Das beweist eindeutig, wie das Metronom damals gebraucht wurde. Bei M.M. 72 =
sind die eindeutig Sechzehntel die „Pendelschläge des Metronoms“, und nicht wie heute üblich, die Achtel. Die Ironie besteht darin, dass Schindler hier ein großes Rätsel der Musikgeschichte des 19. Jh. anhand eines musikalischen Scherzes löst.♪
Wir können diese Auffassung gut nachvollziehen. Bitte zählen Sie in Gedanken Ihre Reisen. Intuitiv werden Sie eine Reise als eine Einheit von Hin- und Rückreise zählen. Eine Reise ohne Rückreise ist ein Umzug und keine Reise. Oder zählen Sie ihre Pulsschläge, immer sind es zwei Vorgänge, Systole und Diastole, die einen Pulsschlag bilden. Die „historische“ Zählweise liegt uns heute also durchaus intuitiv nahe. Man kann sie auch die „Puls-Schlag-Regel“ nennen. Ganz analog war zur Zeit Beethovens eine Einheit (M. M. = Achtel) intuitiv durch zwei Pendelschläge definiert, einen ganzen Zyklus des Metronompendelstabes.
Mit dieser „Puls-Schlag-Regel“ lassen sich für alle Stücke der Kinderszenen musikalisch völlig überzeugende Tempi finden. Der Charakter der Überschrift wird in allen Fällen getroffen. Und die Verhältnisse der Tempi der Stücke des Zyklus untereinander sind dann genau so, wie Schumann das angegeben hat.
Dieser Befund hat große Konsequenzen. Beethoven hat alle Sinfonien metronomisiert. Franz Liszt hat in seinen Klaviertranskriptionen dieser Werke die Metronomzahlen beibehalten. Daraus kann man nur folgern, dass auch für diese Werke das Tempo unter dem Gesichtspunkt der „Puls-Schlag-Regel“ zu beleuchten sind. Das verlangt uns Hörern von heute viel ab, denn wir sind zügige Tempi gewohnt. Doch da wir nun (mit einiger Wahrscheinlichkeit) wissen, welches Tempo Beethoven wollte, sollten wir unsere Hörgewohnheit hinterfragen. Das ist so wie mit den historischen Instrumenten in der Aufführungspraxis seit ca. 40 Jahren. Auf uns warten ganz „neue Stücke“ und völlig ungewohnte, bereichernde Eindrücke. Es bleibt allen Künstlern unbenommen, das Tempo gemäß eigenen künstlerischen Erwägungen anders zu wählen. Aber die Tempointention der Komponisten liegt als Alternative auf dem Tisch und sollte mit Ernst diskutiert werden.