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Notizen von unterwegs – Vorwort: Hinter den Fassaden des Alltäglichen von Chaim Noll

Vera Lengsfeld ist in ihrem Leben weit gereist. Ihre Notizen von unterwegs hat sie zu kurzen, prägnanten Reiseberichten kompiliert, die tagebuchartig festhalten, wo sie war, was sie gesehen und gehört hat, und gelegentlich, doch nie dominierend, was sie darüber denkt. So berichtet sie von Reisen in alle Himmelsrichtungen, nach Argentinien, Litauen, Israel, China, Rumänien, Spanien, Zypern, Estland, Kuba, Deutschland, Polen, Chile oder Sibirien, auch in Gegenden, über die sonst kaum etwas Vernünftiges zu erfahren ist wie das quasi-autonome Gebiet Transnistrien.

Die Autorin gibt keine unnötigen Erklärungen ab, warum sie sich an diesem oder jenem Ort aufhielt, teilt über sich nur das Nötige mit und vermeidet die bei anderen Reiseautoren üblichen Abschweifungen in eigene Reflexionen und Weltgedanken. Gegenstand ihres Berichts ist immer der besuchte Ort. Den versucht sie, soweit möglich, zu Fuß zu erkunden. So, „auf Augenhöhe“, in direktem vis à vis, begegnet sie dem Unbekannten, das sie fernen Orts erwartet, stellt sich ihm mit Neugier und Offenheit, mit einem jugendlich wirkenden Interesse an den Problemlösungen anderer.

Wie genau sie die Atmosphäre einer Stadt oder Landschaft einzufangen weiß, kann ich dort nachvollziehen, wo sie mir bekannte Orte besucht, etwa Petrosawodsk in Karelien. Genau so habe ich selbst diese weltferne Gegend in Erinnerung. Ihre Neugier geht in die Tiefe, oft schmerzhaft, auf Kosten der Idyllik des Reisens. Ihrerseits früh mit Geschichte konfrontiert, erweist sie sich als unerschrockene Spurensucherin, versessen auf das Historische hinter den Fassaden des Alltäglichen.

In Moskau sieht sie die Schönheit des rekonstruierten alten Arbat, doch sie wirft auch einen Blick auf das Hotel Lux, in dem in den dreißiger Jahren, zur Zeit der „Großen Säuberung“, die emigrierten Ausländer wohnten und in hypnotischer Starre warteten, bis die Männer in den Ledermänteln kamen, meist im Morgengrauen, und sie abholten. Gleich nebenan ist die Lubjanka, das Gefängnis der sowjetischen Staatssicherheit, in der abgeurteilt, nach Sibirien verschickt, nicht selten auch gleich hingerichtet wurde. Vera Lengsfeld, kundig in der Literatur des Schreckens, erkennt das Dom na Nabereshnoj, das „Haus an der Uferstraße“, dessen Insassen, Funktionäre und hohe Offiziere, fast alle den Weg in die Lager gingen. Zugleich ist sie imstande, die grandiose Ausstrahlung der alten russischen Metropole zu beschreiben, die den Schatten standhält, die eine wechselvolle, nicht selten tragische Geschichte auf sie wirft.

Die meisten Orte, die sie besucht hat, befinden sich in einem rapiden, manchmal radikalen Wandel. So dass es an sich verdienstvoll ist, den Jetzt-Zustand gewissenhaft zu beschreiben, weil er zum Zeitpunkt der Niederschrift schon aufgehört hat zu bestehen und womöglich nur in Lengsfelds Notizen überdauert. Das gilt für die Wunden und Krater des Krieges auf dem Balkan nach dem Zerfall Jugoslawiens, für die Foltermale Rumäniens, das bunte Elend Kubas der späten Castro-Zeit. Novosibirsk nennt sie in diesem Nebeneinander von alt und neu, von gestriger Misere und sich abzeichnendem Aufschwung eine „Patchworkstadt“. Das Wort trifft in dieser Zeit schneller Veränderung auf manchen der besuchten Orte zu. Sogar Ushuaia auf Feuerland, am Rand der bewohnbaren Welt, kurz vor dem Übergang ins ewige Eis, hat sich verwandelt: aus der ehemaligen argentinischen Strafkolonie von achthundert Seelen wurde, wie die Reisende festhält, binnen weniger Jahrzehnte „eine boomende Stadt mit 60 000 Einwohnern.“

Viele historische Details, die Vera Lengsfeld recherchiert und repetiert, waren mir unbekannt, und jetzt davon zu erfahren, macht dieses Buch für mich zur spannenden Lektüre. Weil sich im Historischen immer die Geheimnisse des Heutigen verbergen, über die nachzudenken wir sanft genötigt werden. Ich wusste bisher wenig oder nichts über Beijings Stadtentwicklung, über die strukturellen Probleme chinesischer Mega-Metropolen, oder über Kuba, wo ich nie war. Oder über die Wechselfälle in der Geschichte der Insel Helgoland. Oder die Tragödie der Stadt Warschau, die von den Nazis „zu neunzig Prozent dem Erdboden gleich gemacht“ wurde.

Doch das Unheimliche, Bedrohliche kann auch mitten im Frieden geschehen, in einer westlichen Demokratie. Bei einem Besuch in Madrid beobachtet Vera Lengsfeld die Diskrepanz zwischen Medienbild und Wirklichkeit, die neue, heimliche Art der Desinformation: „Als ich am anderen Morgen die Nachrichten im Fernsehen anschaue, stelle ich fest, dass die Zahl der Teilnehmer des Protestzuges absurd niedrig angegeben wurde. Sechshundert sollen es nur gewesen sein, wo ich mehrere Tausend an dieser Kreuzung gesehen habe (…) Arroganz der Macht? Auf die Dauer werden sie damit nicht durchkommen.“

Arroganz und Schwäche westlicher Politik entgehen ihr nicht, vor allem nicht die Zeichen einer verfehlten, antiquierten Außenpolitik der europäischen Staaten: „Die Türkei denkt nicht daran, die griechische Stadt Famagusta zurückzugeben, wie sie sich verpflichtet hat. Sie kann darauf vertrauen, dass die EU von ihr die Vertragserfüllung nicht einfordert.“ Und sie ahnt die Folgen dieser schwachen Politik: „Ich werde das beklemmende Gefühl nicht los, dass unsere Reise in die Vergangenheit des Bürgerkrieges im ehemaligen Jugoslawien eine Zeitreise in die Zukunft Europas ist.“

Vera Lengsfeld ist eine Frau mit großer Lebenserfahrung und politischem Gespür. Wie ihre Reise-Impressionen zeigen, ist sie weit in der Welt herum gekommen. Dabei bodenständig geblieben mit ihrem Hanggrundstück voller Obstbäume, das sie von ihrer Großmutter in Thüringen geerbt hat. Einmal bin ich mit ihr in der Wüste gewandert und habe ihre unglaubliche Ausdauer erlebt. Die sie auch anderswo zeigt, zum Beispiel in ihrem Eintreten für demokratische Freiheiten. Sie erkletterte die Sandhügel und Felsen der Negev-Wüste schneller als jeder andere. Training, sagte sie. Denn sie muss, um ihre Obstbäume zu ernten, ständig hügelauf und -ab laufen. Reisen ist nur eine Seite ihre Lebens. Und sie ist davon nicht, wie viele andere, konfus, „für alles offen“ und meinungslos geworden. Vera ist auf ihren weiten Fahrten durch die Welt ein Mensch geblieben, der ein Zuhause hat, eine klare Orientierung.

Chaim Noll

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Buch/Filmkritik Kultur

Der Auserwählte oder die Gefährlichkeit der Einheitsmeinung

Ein Freund empfahl mir kürzlich den Film „Stalins Tod“.
Auf der Suche danach bin ich bei Netflix erst zu „Er ist wieder da“ geleitet worden, was ich mir aber nicht antun wollte, dann über „Roman Empire“ zu „The Chosen“, wo ich hängengeblieben bin. Es ist nicht die Serie über Jesus Christus, sondern ein Film über den Mörder von Stalins Konkurrent Leo Trotzky, leider nur in Spanisch, mit englischen Untertiteln. Das Werk beginnt mit Originalaufnahmen von Lenin, Trotzky und Stalin, bis hin zu einer Erschießung.

Die eigentliche Story nimmt ihren Ausgang im spanischen Bürgerkrieg. Eine kommunistische Funktionärin fährt an die Front, um ihrem Sohn mitzuteilen, dass er für eine besondere Mission ausgewählt wurde. Der will eigentlich nicht, beugt sich aber dem Diktum, dass die Partei bestimmt, wohin er gestellt wird. In der Sowjetunion wird er in einer ablegenden Hütte, wo ihm als einziger Gefährte ein Hund beigeben wird, für seinen Auftrag trainiert. Er muss vergessen, je Spanier gewesen zu sein, sondern ist der belgische Staatsbürger Jacques. Am Ende des Trainings wird seine Härte gestetet, indem ihm sein Ausbilder befiehlt, den geliebten Hund zu erschießen, was er tut.

Der Auserwählte wird zuerst nach Paris geschickt, wo er der Sekretärin von Trotzky zugeführt wird. Er spielt ihr vor, sich in sie verliebt zu haben, so erfolgreich, dass sie ihm glaubt, dass er ihretwegen nach Mexiko kommen wird, wohin sie zurück muss. Der Film gibt interessante Einblicke , wie stark die GPU in Mexiko vertreten war und wie rücksichtslos sie Genossen aus dem Weg räumte.
Der Auserwählte wird in Mexiko Stadt auf der Straße von seinem verehrten ehemaligen Kommandeur aus dem Bürgerkrieg erkannt. Er versucht, ihn loszuwerden, wird aber von seine ewigen Begleiten aufgefordert, ihn zurückzurufen und abzulenken, bis er von den GPUlern abgeholt werden kann. Auch das tut er und stellt sich taub, als der Freund ihn um Hilfe ruft, weil er ahnt, was es bedeutet, in ein Auto gezerrt zu werden. Am Tag darauf findet man den Kommandeur ertrunken in einem Parkteich.

Auch als ein Anschlag auf Trotzky schief geht, weil es dem gelingt, sich und seine Frau Natalia rechtzeitig aus dem Bett zu retten, das von verkleideten Polizisten unter Beschuss genommen wird, wird der vermeintliche Verräter, der gänzlich unschuldig, aber frisch aus New York eingetroffen war, sofort beseitigt. Der Auserwählte fragt zwar, ob es nötig gewesen sei, zwei treue Genossen hinzurichten, gibt sich aber mit der Antwort seiner Mutter, die neben dem GPU-Ausbilder die Operation Trotzky leitet, dass die Sache der Partei eben manchmal Opfer erfordere, zufrieden.

Nun muss der Auserwählte selbst Hand an Trotzky legen. Ihm war es inzwischen gelungen, mittels seiner Geliebten, die bei seinen heimlichen Treffen mit der GPU nur „die Sekretärin“ genannt wird, Zugang zu Trotzkys Haus zu erhalten. Zwar mißtraut der deutsche Sicherheitschef Trotzkys dem Auserwählten zutiefst, auch Trotzkys Frau Natalia hat Vorbehalten gegen ihn, aber Trotzky ließ ihn weiter zu sich.
Am Tag des Mordes wunderte man sich , warum der Auserwählte einen Regenmantel über dem Arm trug, gab sich aber mit der Antwort, er wolle auf plötzliche Regengüsse vorbereitet sein, zufrieden.
Trotzky nahm ihn trotz aller Warnungen wegen eines nächsten Anschlags mit in sein Büro, ließ es sogar zu, dass der Mörder hinter seinen Schreibtischstuhl trat und gab ihn damit die Gelegenheit, den im Mantel versteckten Eispickel hervorzuholen und ihn zu erschlagen. Das gelingt nicht sofort, denn trotz intensiven Trainings erwischte er Trotzkys Kopf nur seitlich. Trotzky konnte ihm noch den Eispickel entwinden und um Hilfe rufen.
Der schwerst verwundete Trotzky befahl noch seinen Leuten, den Attentäter am Leben zu lassen, damit er seine Geschichte offenbaren könne. Das gelang aber nicht. Trotz erdrückender Gegenbeweise bestand der Auserwählte unter Folter, vor Gericht und in während seiner zwanzigjährigen Haft darauf, der belgische Staatsbürger Jaques zu sein.
Nach seiner Entlassung ging er in die Sowjetunion, wo er mit dem höchsten Titel „Held der Sowjetunion“ geehrt wurde. Seine Mutter war schon vor ihm da gewesen, hatte die Härten des realsozialistischen Lebens aber nicht ausgehalten und es vorgezogen nach Spanien zurückzukehren und ihr Leben als kleine Versicherungsangestellte zu beenden.
Den Auserwählten hielt es auch nicht im Vaterland aller aufrechten Kommunisten, er ging nach Cuba, wo er hochbetagt starb.

Das Interessante an dem Film war, wie tief alle Akteure ihr Marionettendasein verinnerlicht hatten. Sie taten, was die Partei ihn befahl und waren sich möglicher Konsequenzen durchaus bewußt. Der Trainer des Auserwählten sagte, jeder würde beobachtet, alle könnten vor dem Erschießungskommando enden. Wichtig wäre allein die Partei.

Jeder, dem nicht klar ist, wie gefährlich eine Einheitsmeinung ist, sollte sich diesen Film ansehen.
Der aktuelle Bezug ist, dass wieder massiv eine Einheitsmeinung gefordert wird. Wir sollten uns der Gefahr, die das bedeutet, bewußt sein.

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Wie sind Robert Schumanns rätselhafte Tempoangaben in den „Kinderszenen“ op. 15 zu verstehen?

Von Gastautor Bernd Braun

Zusammenfassung:

Anhand einer historischen Quelle wird der Gebrauch des Metronoms in der ersten Hälfte des 19. Jh. nachgewiesen. Es wird beschrieben, dass er sich vom heute üblichen Gebrauch unterscheidet. Dieser „historische“ Gebrauch wird als „Puls-Schlag-Regel“ in die Diskussion eingeführt und vom „naiven“ Metronomgebrauch abgegrenzt. Die Metronombezeichnungen von Robert Schumann in seinen „Kinderszenen“ lassen sich im Lichte diese Quelle in Tempi übertragen, die zu überzeugenden musikalischen Lösungen führen. Die Bedeutung dieses Befundes für die Musik der Beethovenzeit wird angedeutet. Wim Winters (geb. 1972) wird als maßgeblicher Forscher und Autor auf diesem Gebiet der historischen Aufführungspraxis gewürdigt.

Robert Schumann (1810 – 1856) veröffentlichte 1839 seine „Kinderszenen, leichte Klavierstücke“, op. 15. Es sind poetisch verklärte Erinnerungen eines Erwachsenen an die Kindheit. Insbesondere die „Träumerei“ gilt als Inbegriff romantischer Klaviermusik.

Überblickt man Tondokumente der „Kinderszenen“ von Robert Schumann, so findet man, dass die Interpreten die Tempoangaben der Stücke sehr unterschiedlich umsetzen. Nur bei Nr. 7, der „Träumerei“ scheinen sich alle einig. Hier schreibt Schumann 100 Viertelschläge pro Minute vor, aber praktisch immer wird die „Träumerei“ ungefähr im halben Tempo gespielt, offenbar, weil es so am besten zum Titel des Stückes passt. Das direkt folgende Stück Nr. 8 „Am Kamin“ ist mit 138 Viertelschlägen pro Minute bezeichnet. Diese Angabe wird von den meisten Interpreten ernst genommen und ausgeführt. Das gleiche rasche Tempo schreibt Schumann für Nr. 3 vor, den „Hasche-Mann“. Hört man solche Aufnahmen, scheint der Titel des Zyklus „leichte Klavierstücke“ nicht recht zu passen. Auch will sich beim Stück Nr. 12 bei 92 Achtelschlägen pro Minuten das Bild vom „Kind im Einschlummern“ nicht recht einstellen.

Die Metronomangaben Schumanns sind insgesamt unerwartet rasch für eine Sammlung von „leichten Klavierstücken“. Sie lassen keinen Zweifel über die relativen Tempoverhältnisse der Stücke untereinander zu, aber die Tempi scheinen nicht durchgehend zum Charakter der Stücke zu passen. Schumann hat in den erhalten gebliebenen Korrekturfahnen die Metronomzahlen belassen, aber anderes korrigiert. Offenbar hat er die Angaben ernst gemeint und die Tempi so gewünscht. Dieser Befund gibt heute Rätsel auf. 

Ein Blick in andere Druckausgaben des frühen 19. Jh. vermehrt die Fragen. Ludwig van Beethoven (1770 – 1827) hat sich sehr positiv über die Erfindung geäußert und hat viele Klaviersonaten und alle seine Sinfonien metronomisiert. Franz Liszt (1811 – 1886) hat alle Sinfonien Beethovens für Klavier bearbeitet herausgegeben und dabei die Metronomangaben Beethovens im Druck beibehalten. Franz Schubert (1797 – 1828) hat seinen „Erlkönig“ im Erstdruck 1821 metronomisiert veröffentlicht. Johannes Brahms (1833 – 1897) schreibt an Clara Schumann (1829 – 1896) im Zuge der Ausgabe von Schumanns Werken: „Notiere doch auch Härtels, daß die Pedal- und Metronom-Bezeichnung in den Kinderszenen zu bleiben hat.“

Es kursieren einige Erklärungen für die Ungereimtheiten bei den Metronomangaben, die mich nicht überzeugen. Mir scheint es nicht vorstellbar, dass Schumanns Metronom defekt war, denn dann hätte es in seinem Umfeld sicher jemand moniert. Im ganzen Kreis um Schumann ist mir keine kritische Äußerung zu den Metronomzahlen bekannt. Clara Schumann sollte das nicht bemerkt haben? Das analoge Argument gilt für Beethovens Metronom. Ich halte die gelegentlich geäußerte Vermutung, der geniale Schöpfer der 9. Sinfonie habe das Metronom falsch abgelesen, für abwegig. 

Bis vor wenigen Jahren gab man mit der Vermutung zufrieden, Schumanns Metronom sei defekt gewesen. Dem belgischen Organisten und Vertreter der historischen Aufführungspraxis, Wim Winters, verdanken wir, die plausibelste Lösung des Rätsels aufgezeigt zu haben. Seine Lösung leuchtet mir am meisten ein, denn sie besticht durch ihre Einfachheit: das Metronom wurde zu Schumanns Zeit anders gebraucht als heute.

Die Änderung hat sich offenbar zwischen 1880 und 1910 vollzogen. Das ergibt sich aus der oben bereits erwähnten brieflichen Äußerung von Johannes Brahms an Clara Schumann aus dem Jahr 1879 anlässlich der Ausgabe der Werke von Schumann: „Notiere doch auch Härtels, daß die Pedal- und Metronom-Bezeichnung in den Kinderszenen zu bleiben hat.“ Im Jahr 1915 hingegen urteilte Leopold Godowsky (1870 – 1938) in seiner Ausgabe der Kinderszenen, die Metronomangaben seien „falsch, wegen eines Defekts am Metronom oder Schumanns Unentschlossenheit in Bezug auf das Tempo“. Praktisch alle Quellen im 20 Jh. enthalten ablehnende Äußerungen über die Metronomangaben des 19. Jh., und es wird ihnen jeder Informationsgehalt abgesprochen.

Heute nehmen wir die kleine Note der Metronomangabe als einen Pendelschlag bei der angegebenen Schlagzahl pro Minute. Ein „Tack“ des Metronoms ist ein Achtel, wenn die Angabe lautet: M.M. 72 =  zählen wir 72 Achtel pro Minute.

Die Zeitgenossen Schumanns und Beethovens zählten anders. Für diese Behauptung gibt es mehrere Quellen und viele Indizien. Der klarste Beleg dafür ist eine Passage in der Beethoven-Biographie von Anton Schindler (1795 – 1864). Schindler war Beethovens Sekretär. Dass er heute etwas umstritten ist, ändert nichts an der Glaubwürdigkeit der im Folgenden zitierten Stelle der Biographie. Auf Seite 196 der dritten Auflage seiner Beethoven-Biographie, erschienen in Münster 1860, erklärt Schindler nebenbei, fast unabsichtlich und daher besonders glaubwürdig in einer Nebenbemerkung den Gebrauch des Metronoms.  Er berichtet über einen geselligen Abend im Jahr 1812 zum Abschied von Nepomuk Mälzel (1772 – 1838), dem Erfinder des Metronoms. Beethoven improvisierte bei dieser Gelegenheit heiter, witzig und „aufgeknöpft“, den nachstehenden Kanon:

Der entscheidende Satz lautet: „Ta ta ta ta sind die Pendelschläge des Metronoms“. Das beweist eindeutig, wie das Metronom damals gebraucht wurde. Bei M.M. 72 =  sind die eindeutig Sechzehntel die „Pendelschläge des Metronoms“, und nicht wie heute üblich, die Achtel. Die Ironie besteht darin, dass Schindler hier ein großes Rätsel der Musikgeschichte des 19. Jh. anhand eines musikalischen Scherzes löst.

Wir können diese Auffassung gut nachvollziehen. Bitte zählen Sie in Gedanken Ihre Reisen. Intuitiv werden Sie eine Reise als eine Einheit von Hin- und Rückreise zählen. Eine Reise ohne Rückreise ist ein Umzug und keine Reise. Oder zählen Sie ihre Pulsschläge, immer sind es zwei Vorgänge, Systole und Diastole, die einen Pulsschlag bilden. Die „historische“ Zählweise liegt uns heute also durchaus intuitiv nahe. Man kann sie auch die „Puls-Schlag-Regel“ nennen. Ganz analog war zur Zeit Beethovens eine Einheit (M. M. = Achtel) intuitiv durch zwei Pendelschläge definiert, einen ganzen Zyklus des Metronompendelstabes.

Mit dieser „Puls-Schlag-Regel“ lassen sich für alle Stücke der Kinderszenen musikalisch völlig überzeugende Tempi finden. Der Charakter der Überschrift wird in allen Fällen getroffen. Und die Verhältnisse der Tempi der Stücke des Zyklus untereinander sind dann genau so, wie Schumann das angegeben hat.

Dieser Befund hat große Konsequenzen. Beethoven hat alle Sinfonien metronomisiert. Franz Liszt hat in seinen Klaviertranskriptionen dieser Werke die Metronomzahlen beibehalten. Daraus kann man nur folgern, dass auch für diese Werke das Tempo unter dem Gesichtspunkt der „Puls-Schlag-Regel“ zu beleuchten sind. Das verlangt uns Hörern von heute viel ab, denn wir sind zügige Tempi gewohnt. Doch da wir nun (mit einiger Wahrscheinlichkeit) wissen, welches Tempo Beethoven wollte, sollten wir unsere Hörgewohnheit hinterfragen. Das ist so wie mit den historischen Instrumenten in der Aufführungspraxis seit ca. 40 Jahren. Auf uns warten ganz „neue Stücke“ und völlig ungewohnte, bereichernde Eindrücke. Es bleibt allen Künstlern unbenommen, das Tempo gemäß eigenen künstlerischen Erwägungen anders zu wählen. Aber die Tempointention der Komponisten liegt als Alternative auf dem Tisch und sollte mit Ernst diskutiert werden.

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Ausdrückliche Leseempfehlung: Karsten Dusse und seine Achtsam morden – Reihe

von Philipp Lengsfeld

Mein neuer Held ist Rechtsanwalt und Autor Karsten Dusse.

Karsten, wie ich ihn ungefragt nenne und nennen würde, wir sind praktisch ein Jahrgang, ist ein Rechtsanwalt der erst relativ spät zum Schreiben gefunden hat. Und zwar in den Jahre 2015-2018, in den wichtigen Jahren nach seinem 40. Geburtstag.

Vielleicht erklärt die Spätberufung und die Vorarbeit über ein vermutlich eher politisch gefärbtes Halbfachbuch („Halbwissen eines Volljuristen“ – hatte noch keine Zeit das zu lesen) den instantanen Durchbruch: Mit dem in einer Lebenskrise befindlichen Rechtsanwalt Björn Diemel und der Welt, in der er sich bewegen muss, hat Dusse eine sehr coole und sehr erfolgreiche Marke geschaffen. Und das ist die Ein-Satz-Kurzform: Ausgelöst durch einen von seiner mit ihm auf dem Weg zur endgültigen Trennung befindlichen Frau verordneten Achtsamkeitskurs krempelt Rechtsanwalt Diemel sein Leben um, nimmt es achtsam in die Hand und übernimmt die Führung eines Mafia-Geschäfts.

Die „Achtsam morden“-Reihe umfasst mittlerweile vier Bände und jedes Lesen ist wie eine therapeutische Sitzung mit Björn/Karsten über den Wahnsinn der momentanen deutschen Gesellschaft.

Karsten Dusse hat dabei die in Deutschland allseits geschätzte Format des Krimis gewählt. Dies erlaubt ihm die Grundidee auch mit regelmäßigen, teilweise recht heftigen Gewaltausbrüchen zu garnieren. Aber die „Achtsam morden“-Reihe sind keine Krimis, sondern ein clever unterhaltsames Gesellschaft- u Kleinfamilienporträt und eine radikale Gesellschaftskritik. Das Element Krimi hat da meines Erachtens vor allem die Funktion des Absteckens von Kunstfreiheit. Und ist auch schon die erste konsequente Gesellschaftskritik, denn die von mir schon lange nicht mehr goutierten wöchentlichen Tatorte unterscheiden sich ja von einer sturzlangweiligen Volksbelehrung oder einer Art regionaler Lindenstraße im Polizeimilieu (zu oft sogar beides) ja auch nur noch dadurch, dass es irgendwie immer noch in jeder Folge um ein Tötungsverbrechen geht. Dusse nutzt das vorhandene deutsche Instrumentarium souverän und customer conscious: Das gewählte Format ist schon der erste von vielen Geniestreichs des Karsten Dusse.

Karsten Dusse belehrt seine Leserinnen und Leser nicht, sondern er unterhält sie und man kann trotzdem etwas lernen. Nicht nur ist das gesamte Achtsamkeitsgebäude sehr sorgfältig ausgearbeitet – die sehr sympathische Figur des Achtsamkeitscoaches Joschka Breitner ist eine der wenigen Profis in dieser Welt, sein über die Bände ausgiebig zitiertes Standardwerk („Entschleunigt auf der Überholspur. Achtsamkeit für Führungskräfte“) muss sich auch im oberen Drittel der Masse der modernen Psycholiteratur sicher nicht verstecken (in Band vier erfährt man mehr über Joschka Breitner). Auch die stringente Führung der Geschäfte der anderen Profis, neben Björn Diemel selbst (von dem man sich durchaus einige juristische Kniffe abschauen kann) vor allem die vier Officers, des von ihm übernommenen Mafia-Geschäfts werden genau und lehrreich beschrieben.

Die Grundidee des Björn Diemel Lebenswechsels ist ganz einfach – in einer inkompetent aufgesetzten, oft verlogenen und zu oft auch durch und durch korrupten Gesellschaft kann man als Profi nur überleben, wenn man zur Lösung bestimmter Probleme (und zwar die Probleme, die auch wirklich gelöst werden müssen) auch notfalls nicht nur sprachbildlich über Leichen geht – nicht aus böser Absicht, sondern weil es letztlich auch nur ein unzulässiges Mittel mehr ist und ein Stück weit Waffengleichheit zurückholt.

Björn Diemel ist als erfolgreicher Rechtsanwalt in einer Lebenskrise, weil das System ihn von Anfang an keine Chance gelassen hat: Als Neuling in einer halbseriösen Kanzlei bekommt er als ersten Klienten einen erfolgreichen, aber zutiefst pathologischen und gewalttätigen Mafiosi aufgedrückt und wächst mit diesem und seine durch ihn erzeugten Aufgaben. Dusse bedient sich hier gekonnt mehrerer Vorlagen, die von mir auch alle geschätzt werden: Weniger naiv als Tom Cruise in „Die Firma“, aber auch weniger überdreht als Saul Goodman aus „Breaking Bad“ und „Better call Saul“. Dieser Klient ist aber auch der Grund, warum Diemel nicht Partner wird und der Wahnsinn rund um diesen Klienten bringt RA Diemel an den Abgrund seiner professionellen Existenz.

Karsten Dusse zeichnet in dem Dilemma von Björn Diemels Lebenskrise das Grundthema seiner fundamentalen Gesellschaftskritik – wenn man ein System hinstellt, in dem die Akteure nicht gewinnen können, weil die Regeln so manipuliert sind, dass sich immer der Terror des Mittelmaßes durchsetzt, gerne begleitet von hochverlogener Moralrhetorik und permanenter Manipulation der restlichen Regeln zu eigen Gunsten, hilft nur eine radikale Abkehr von den fesselnden System-Regeln.

Im Band eins muss sich Björn Diemel entscheiden: Lässt er zu, dass das System und sein Mandant ihn kleinkriegt (seine Ehe ist am Ende, seine Karriere steckt in der Sachgasse, sein Mafiahauptklient steckt in massiven Schwierigkeiten an denen er selber einen sehr erheblichen Anteil hat und die das gesamte Konstrukt hochgradig gefährden) oder bricht er aus und übernimmt die Führung?

Björn Diemel entscheidet sich für sich, seine Tochter, eine aktive Steuerung seines Lebens und seine Professionalität, die im Zweifel über Leben und Tod entscheidet.

Der erste Mord ist auch schon eine der vielen Klassikerszenen: Der gestresste Anwalt in kommender Scheidung plant einen Ausflug an den See mit seiner Tochter, die Krise mit seinem Mafia-Mandanten droht ihm alles zu nehmen, aber insbesondere den schönen Nachmittag mit seiner Tochter – den Mafiosi hinten in seinem schwarzen Kanzleiprotz-Dienstwagen versteckt (nachdem dieser vor laufenden Kindersmartphones die rechte Hand seine Kontrahenten und Ex-Freundes auf einem Autobahnparkplatz totgeschlagen hat) fahren neuachtsamer Vater Björn und seiner Tochter zum ihrem Seegrundstück. Dort entscheidet sich Björn final: Karsten Dusse hat auch ein wirklich feines Händchen fürs Absurd-Makabare: Der erste, eigentlich ziemlich qualvolle Mord-Tod im Kofferraum findet in der prallen Wochenendsonne am See statt, während Vater und Tochter auf dem Steg sitzen und Steinchen ins Wasser werfen.

Björn Diemel übernimmt dann die Mafiageschäfte seines nunmehr Ex-Mandaten und führt die neue Unternehmung (er trennt sich von seiner Kanzlei und macht sich selbstständig) unter Vorspieglung falscher Tatsachen (er behauptet einfach der Mafiaboss ist untergetaucht – mit Hilfe der Kopie sein abgetrennten Daumens führt er die Mafiageschäfte einfach in seinem Namen weiter).

Band eins und zwei der Krimireihe beschäftigen sich dabei mit dem initialen Krimiplot – in dem Mafiakartell des Mandanten von Björn gibt es einen Verräter der zwei in Koexistenz befindliche Mafiosos und Ex-Freunde gegeneinander ausspielen will um die Organisationen von beiden zu übernehmen. Am Ende von Band zwei sind alle bösen Mafiosos und einige Mittäter tot und RA Björn Diemel selbst führt die Geschäfte für den angeblich noch lebenden einen Chef jetzt für beide Clans.

Aber ich will mich gar nicht mit den auch sehr unterhaltsamen Krimidetails aufhalten – ab Band zwei kommen zur Grundhandlung noch externen Bösewichte, die dann auch mehr oder weniger achtsam das Zeitliche segnen, sondern möchte noch mal auf die Genialität der Dusse‘schen Gesellschaftskritik abheben.

In der Björn Diemel Welt laufen die Dinge rund, wenn Profis die Geschäfte führen: Die Mafia ist da ein Abbild der Gesellschaft: Drogen und Waffen sind das Kerngeschäft, abdeckt durch einen hochprofessionellen Sicherheitsdienst (allein die vielen kleinen Spitzen gegen unsere oft so inkompetenten Sicherheitsbehörden würden einen Artikel für sich füllen) und einen juristischen Profi. Für die soften Seiten des Lebens (und hier geht es beileibe nicht nur um männliche Bedürfnisbefriedigung) ist der Edelescort-Service zuständig. Bleibt der kongeniale Schlussstein: Bedingt durch seine eigene schwierige Lage entdeckt Neu-Mafiosi RA Diemel eine weitere Dimension: Die Mafia übernimmt einen Kindergarten, auch da der hochbegabte und hochprofessionelle ehemalige Fahrer des alten Verbrecherchefs ein ausgebildeter Erzieher ist (die deutsche Migrations- u Lebensrealität haben ihn auf diesen Weg geführt, er ist aber auch wirklich kinderlieb und ein geborener Erzieher und Kindergartenleiter). Die Führung des Kindergartens ermöglicht dabei nicht nur die Korruption diverser verzweifelter Verantwortungsträger (Baudezernt, Hauptkommissar, die anderen Mafia-Officers, die Ex-Ehefrau des Haupthelden), sondern ist ein weiteres schaurig schönes Bild: Der Kindergarten und die darüber befindliche Kanzlei- und Wohnräume und der Gefängnis- und Todeskeller darunter bilden das neue Mafiazentrum.

Mehrere Szenen sind dabei von unfassbarer Brillanz: Wer kennt nicht die verklemmt, komplizierten Elternsitzungen in Kindergärten und Grundschulen? Karsten Dusse verwandelt diese Szenerie einfach als new way of working für die Mafia-Firma-Vorstandssitzung – aus Quälerei wird schierer Spaß, insbesondere natürlich beim Lesen.

Es fällt eh auf, dass Dusse beim Beschreiben (und natürlich Überzeichnen, das ist doch klar) der heuchlerischen und oft komplett absurden Abläufe rund um das grün-liberale start-up-Milieu, das konservativ-verlogene Anwaltsmilieu und das völlig verkorkste liberal-konservative Mütter-neue-alte-Pädagogik-Milieu immer zu absoluter Höchstform aufläuft – selbst in der totalen Überzeichnung noch wirklich lustig – guter deutscher Humor, sonst oft ein Widerspruch in sich. So wird die „war doch nur gut gemeint“ Initiative von Teilen der Kindergartenmütter („unser Kindergarten soll klimaneutral werden“) vom achtsamen Mafiaanwalt und seiner rechten Erzieher- und Kindergarten-Leiterhand dadurch unterdrückt, dass man schlicht die Konsequenzen zur Abstimmung stellt: Reduktion der Plätze auf ein Drittel, Abschalten der Heizung, Bau eines Windrads im Kindergartengarten – die Kollektivenergien wenden sich natürlich -wie von Wunderhand geführt- ganz anderen Dingen zu.

Ich gebe es zu („ich bekenne“), dass ich mit RA Diemel und seinem Adlatus Kindergartenleiter Sascha eigentlich fast uneingeschränkt sympathisiere. Strikte Professionalität kann die Welt wenigstens ein Stück weit besser machen – und Dusse/Diemel ist im Grund ja auch ein Moralist – eigentlich kommen in den Büchern tatsächlich nur Leute um, wo man sich jedenfalls nicht als erstes befleißigt sieht sie zu verteidigen (ein Tod in Band zwei ist ein tragischer Unfall und dient auch als Warnung für RA Diemel, es nicht zu weit zu treiben) – im etwas schwächeren dritten Band (Setting Jakobsweg) und im wieder sehr starken vierten Band (Neuthema Bhagwan) verfeinert Dusse/Diemel auch seine Achtsam-morden Methodik – hier wird jetzt darauf geachtet, dass die Verurteilten noch eine letzte Handlung machen, die zwar psychologisch-manipulativ vorgezeichnet, aber letztlich freiwillig ist. Auch ein Bild auf die momentane deutsche Gesellschaft: Den letzten entscheidenden Schritt machen wir in einer freien Gesellschaft immer noch selber.

Mich hatte eigentlich in den vier Bänden nur eine Stelle ein wenig traurig gemacht und es bewegt mich so, dass ich es erwähnen will: Und das ist der Umstand, dass RA Diemel eine kurze Romanze mit einer attraktiven Frau hat, die entsprechende clever-explizit achtsam beschriebene Kinderelternabend-Sofa-„Nachbesprechung“s-Szene ist ein weiterer echter Höhepunkt (sic!) in den vier Bänden, deren Bruder aber der Hauptböse und das nächste Opfer des Bandes zwei ist. In meiner Vorstellung von unbedingter Professionalität, aber auch wegen seines letztlich moralischen Weltbilds hätte RA, Mafiosi und Mitkindergartenvater Diemel nicht mit der Schwester seines nächsten Opfers schlafen dürfen oder wenn dann hätte der Bruder überleben müssen.

Aber was wäre ein geniales Werk nicht ohne eine kleine bittere Note? Und wer weiß, ob Karsten Dusse diese kleine Irritation nicht bewusst gesetzt hat?

Und es ist ja auch letztlich alles eine Fiktion!

Denn in welchem Land fühlt sich die Wirklichkeit so an, als ob wir nicht nur alle in einem großen Kindergarten leben, sondern dieser auch noch von cleveren Mafiosos unter Nutzung hochmoderner psychologischer Methoden geleitet wird?

Es ist eine Fiktion.

Und meine unbedingte Leseempfehlung: Karsten Dusse, “Achtsam morden“-Reihe.

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Filme neu gesehen: “Raus aus der Haut” von Andreas Dresen (1997)

Von Philipp Lengsfeld

Neulich habe ich einen Film wieder gesehen, der mich schon bei seinem Erscheinen nachhaltig beeindruckt hat: Andreas Dresens „Raus aus der Haut“ von 1997.

Vielleicht vorab: Dieser Fernsehfilm ist aus meiner Sicht politisch ein glasklares Statement des Ostdeutschen Andreas Dresen, Jg. 1962, zum SED-DDR-Regime. Die Handlung spielt im Deutschen Herbst 1977 an einer DDR-EOS. Dresen arbeitet genau die Doppelgesichtigkeit des Regimes heraus, die sich in der pädagogischen Maschinerie besonders manifestiert hat, insbesondere in dem hochkritischen Abitur-Alter.

Dresen entwirft ein künstlerisch ambitioniertes Setting: Die drei jugendlichen Hauptfiguren sind die rassige Anna (Susanne Bormann), die zwischen zwei Männern steht, der ehrliche und sie tief liebende und begehrende Klassenkamerad Marcus (Fabian Busch) und der rebellische charismatische Rocksänger Randy, der vom System schon aus der klassischen Karriere aussortiert wurde und jetzt versucht sich mit Band als Rockstar zu etablieren und Anna nimmt, weil sie attraktiv ist und er es kann.

Diese drei, insbesondere Anna und Marcus, die in der DDR studieren wollen und zwar Medizin (Anna) und Lateinamerikanismus (Marcus) bewegen sich durch das SED-System von Zuckerbrot und Peitsche, kumpelhafter Nähe und klarem Machtgefälle in der Schule und ihren jeweiligen Familie, die wie ein Abbildung von Staatsmechanismen im Kleinen wirken: Die Familie von Anna erfolgreich und auf leichtem Abstand zum System, was angesichts ihrer Position, Vater Chefarzt, Mutter erfolgreiche Sängerin nicht allzu schwer fällt, Marcus Eltern dagegen die Unauffälligkeit in Person. Spiegelbildlich die Vertreter der Schule und des Staates – der Direktor (Otto Mellies) streng und gefürchtet, der stellvertretende Direktor Genosse Winkler freundlich und an der Oberfläche sehr verständnisvoll zu seinen Schülern.

In diesem Setting eskaliert die Situation durch den Hahnenkampf von Marcus und Randy um Anna. Dresen entwickelt daraus eine Parallelentführung des Direktors durch Marcus und Anna gleichzeitig zur Schleyer-Entführung in der BRD (die im Hintergrund immer im Radio oder Fernsehen mitläuft). Während die zweite Generation der RAF versucht die Gefangenen aus Stammheim rauszupressen (Big Raushole), versuchen Anna und Marcus „nur“ ihre von ihrem Klassenlehrer Winkel angekündigte Studienplatzempfehlung über die entscheidende Lehrerkonferenz zu bringen. Die Einzelheiten des elegant konstruierten Plots will ich Ihnen nicht darlegen, hier empfehle ich schon mal nachdrücklich den Film anzusehen, sondern möchte mich auf zwei weitere künstlich-politische Botschaften von Dresen konzentrieren.

Botschaft I:

Terrorismus tötet, bringt den Staat dazu sein wahres Gesicht zu zeigen und endet mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Niederlage. Die Entführung des Direktors durch Anna und Marcus klappt erstaunlich gut, trotz mehrerer Fehler und Fallstricke, der Staat fällt auf die gefälschte Abwesenheitsnotiz zunächst rein und die Einkerkerung im großen Haus der Oma von Anna funktioniert sogar, als diese sich selber aus dem Krankenhaus entlässt und so zunächst Teil der Verschwörung wird. Aber es ist kein Spiel: In der für mich entscheidenden Szene kurz vor dem Showdown des Films fragt der Direktor Anna, die er ziemlich schnell als die treibende Kraft erkannt hat (siehe Botschaft 2), ob die RAF Schleyer töten wird – Anna zögert kurz und sagt dann, ob als bewusste oder unbewusste Lüge: „Nein, das kann sie sich nicht vorstellen“. Aber natürlich passiert genau das. Schleyer wird ermordet und der Direktor, der von der Oma am Abend des Republikgeburtstags 7. Oktober 1977 freigelassen wird, stirbt am Tag von Schleyers Tod (18. Oktober) an Herzinfarkt. Ist es Kummer über das Verhalten „seines“ Staates oder fast ein Selbstmord – die Frage bleibt offen ist aber letztlich unerheblich. Wie der Direktor Anna schon gesagt hatte: Der Staat BRD konnte Schleyer nicht freilassen (den Fehler hatte sie ja einmal bei der Entführung vom Berliner CDU-Spitzenkandidat Peter Lorenz durch die Bewegung 2. Juni in Westberlin 2.5 Jahre davor gemacht). Und genauso verhält sich der DDR-Staat in Gestalt des Schulapparats. Da die Staatsmacht zunächst auf die Tarnung reingefallen war und den Stellvertreter zum Direktor ernannt hatte und da SED und Staatssicherheit gegenüber Direktor Rottmann, wie praktisch bei jedem Bürger in herausgehobener Position auch Material gegen ihn in der Hand hatte – er hatte eine große Liebe, die in den Westen gegangen ist und wollte, dass er nachkommt – die Stasi hatte den Briefverkehr natürlich überwacht. Weil diese Situation sich so entwickelt hat, wird Direktor Rottmann, der übrigens seine Schüler und die Oma nach der Freilassung nicht verrät (was aber die Situation auch nicht groß verändert hätte), in den Vorruhestand geschickt – die Entführung („die Geschichte glaubt uns doch eh keiner, Genosse Rottmann“) hat nicht stattgefunden. Aber sie hat auch keinen Erfolg: Rottmann wird begraben und Anna und Marcus erhalten ihren Studienplatz trotz Empfehlung erst einmal nicht. Im Kleinen ein ähnliches Fiasko wie der Kollektivselbstmord in Stammheim als Abschluss der Big Raushole.

Aber der Film hat noch eine Botschaft.

Botschaft II:

Andreas Dresen identifiziert eindeutig die Frau als treibenden Kraft für den dargestellten Terrorismus. Die Figur der Anna ist mit schillernd eher milde beschrieben: Sie verdreht Männern den Kopf und ist dann aber schwer genervt, wenn die liebestoll Fehler machen: Marcus löst die Probleme in der Schule durch einen Eifersuchtsanfall aus: Anna – sie leistet sich ein gepflegtes Rebellentum, hat aber ausgezeichnete Zensuren für ihre Medizinkarriere – hat die Nacht nach einem Konzert von Randy bei eben jenem verbracht und bringt RAF-Material von Randy in die Schule: Marcus will bei Anna wieder in die Vorhand kommen und auch mal den Helden spielen und legt ein Bild auf den Overheadprojekt just bevor Direktor Rottmann den Raum betritt. So nimmt das Unglück seinen Lauf.

Anna heckt dann auch die irre Entführung aus und halb erpresst Marcus moralisch (er hat den Schlamassel schließlich erzeugt) halb verführt sie ihn zum Mitmachen durch Einsatz ihrer Ausstrahlung und dem Spielen mit seinem Verlangen – als privilegierte Arzt- u Künstlertochter hat sie auch viel mehr Möglichkeiten, als Marcus oder auch Randy. Der wiederum weiß eigentlich ganz genau, was er an Anna hat, bzw. nicht hat – sie ist ein privilegierte Karrieretochter, die sich mit dem Musikerrebell mehr aus Spiel und Image einlässt. Randy und seine Band stehen in der DDR zwischen Baum und Borke – er will echten Rock spielen, die gerade frisch verbotene Gruppe Renft sind seine Helden, aber für die staatliche Zulassung muss er laufend Kompromisse machen. Anna versucht ihn in die Entführung reinzuziehen, aber er widersteht, worauf sie ihn auch mächtig unter Druck setzt: Große Sprüche, nichts dahinter – wenn Du bereit bist, im Konzert Renft zu spielen, kriegst Du mich wieder.

Und das ist dann auch der dramatisch-traurige Höhepunkt des Films: Randy spielt am Abend des 7. Oktober in der Schule, nachdem Anna mit Marcus auftaucht, spontan Renft: „Raus aus der Haut“ ist die Kernzeile des wunderschönen, tieftraurigen Renft-Klassikers „Als ich wie ein Vogel war“ – wer kennt das Gefühl nicht? Randy versucht „raus aus seiner Haut“ zu kommen, auch weil Anna ihn massiv gereizt hat: Es endet in der Katastrophe. Seine Band setzt sich sofort ab, das Konzert wird abgebrochen, Randy wird verhaftet (er stand schon aus Beobachtung, weil Anna nach der Entführung den Sticker seiner Band Feuerbrunst in der Wohnung von Rottmann vergessen hatte) und wird zu 6 Monaten verknackt. Anna und Marcus sind tief erschüttert, finden ihren Entführungskerker leer und verbringen die Nacht zusammen auf die Marcus zwei Jahre lang gehofft hatte.

Schon eine ziemliche Anklage gegen die Figur der Anna: Wenn ich mir die eine kritische Bemerkung zu einem sonst meisterlichen Werk erlauben darf: Ich finde die Figur der Anna ein klein wenig zu negativ gezeichnet, aber das ist nur mein Blick.

Schauen Sie diesen großartigen Film über den schrecklichen deutschen, ostdeutschen Herbst 1977, der auch bis in alle Nebenrollen exzellent besetzt ist und quasi als Sahnehäubchen auch einen der ersten filmischen Auftritte von Matthias Schweighöfer als bester Kumpel von Marcus enthält.

Raus aus der Haut, Andreas Dresen, 1997

Raus aus der Haut | Film 1997 | Moviepilot.de

Gute Kurzzusammenfassung/Teaser:

Raus aus der Haut – YouTube

Renft: “Als ich wie ein Vogel war“

als ich wie ein vogel war – YouTube

Matthias Schweighöfer-Szenen in “Raus aus der Haut”:

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Verlorene Kindheit

Von Elke Deluse

Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut
In der wir untergegangen sind
Gedenkt
Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht
Auch der finsteren Zeit

Der ihr entronnen seid.

Bertold Brecht: An die Nachgeborenen

Teil 1: Die Flucht

Das Angebot

Am Morgen des 15. Februar 1945 klingelte es Sturm an der Haustür meiner Großmutter Elfriede. Ein schneereicher und bitterkalter Winter hatte den Menschen in der kleinen Stadt Stolp in Pommern hart zu schaffen gemacht. Brennmaterial gab es kaum noch und Elfriede fror in der kaum beheizten Küche. Seit 6 Uhr war sie wach und saß mit einer Tasse Ersatzkaffee zusammengekauert dicht neben dem kleinen Ofen, in dem ein paar Holzzweige brannten.

Erstaunt über den frühen Besuch am Morgen, öffnete sie die Haustür nur einen Spaltbreit, um möglichst wenig eisige Luft in den Flur zu lassen. Draußen stand Charlotte Neumann, die 15-jährige Tochter der Nachbarn und beste Freundin Mariannes, Elfriedes Tochter.

„Komm herein“, schnell zog Elfriede das Mädchen in den Flur und schloss die Tür hinter ihr. „Willst du zu Marianne? Ilse und sie schlafen beide noch.“

Charlotte war trotz der Kälte verschwitzt und das dunkle, lange Haar hing ihr ungekämmt ins Gesicht. Sichtlich aufgeregt zog sie meine Großmutter in die Küche.

„Nein, ich will mit dir sprechen Tante Elfriede. Heute Abend fahren wir los. Die Eltern sind dabei zu packen und haben mich geschickt, um zu sagen, dass ein Platz für Marianne frei ist. Bitte, lass sie mit uns fahren!“

Seit Monaten hatten sich immer mehr Familien auf den Weg gen Westen gemacht, um vor den anrückenden russischen Truppen zu fliehen. Unkoordiniert und ohne Genehmigung der Reichsregierung war das ein riskantes Unterfangen. Mit Handwagen, Pferdekutschen und Fahrrädern, auf die die Menschen das Nötigste luden, zogen sie los. Der tiefe Schnee in diesem Winter hatte manche aufgeben lassen. Viele waren auf dem Weg erfroren oder von  umherziehenden Banden ausgeraubt worden.

Der Tod von 9 000 Flüchtlingen, die mit dem Schiff Wilhelm Gustloff in der Ostsee ertrunken waren, hatte sich in Windeseile herumgesprochen.  Da die Flucht als Feigheit vor dem Feind galt, kam es auch zu Erschießungen.

All diese Gefahren hatten Elfriede bewogen, in Stolp zu bleiben.

Seit dem Tod ihres Mannes 1943 war sie mit den beiden Töchtern alleine. Als Grundschullehrerin hatte sie ein leidliches Gehalt und manche Eltern ihrer Schüler schenkten ihr gelegentlich frisches Gemüse, ein Huhn, ein Stück Butter. Seit sie das obere Stockwerk des Hauses vermietete, kamen die drei ganz gut über die Runden und Elfriede fürchtete sich mehr vor den Ungewissheiten einer Flucht als vor der Roten Armee.

Ja, alle in Stolp hatten von Gräueltaten der Russen gehört, von Vergewaltigungen und Plünderungen. Die Nazipropaganda schürte die Angst vor den anrückenden slawischen Horden ständig und trotzdem – Elfriede wollte die Sicherheit ihres Zuhauses nicht aufgeben. Bestimmt  war ja  nicht alles wahr, was erzählt wurde? Die Russen liebten doch Kinder, Ilse war erst 11, vielleicht erbarmten sich die Soldaten? Lehrer würden doch auch in Zukunft noch gebraucht werden.

„Bitte lass Marianne mit uns fahren.“ Charlotte ruckelte aufgeregt auf dem Stuhl herum, den Elfriede ihr ans Feuer geschoben hatte. „Sie kann zwar nur eine kleine Tasche mitnehmen, aber mit dem Auto schaffen wir’s bestimmt. Dann sind wir zusammen und Ilse und du, ihr kommt nach.“

Elfriede sah das junge Mädchen verstört und ängstlich an. Seit Tagen wusste sie davon, dass die Neumanns Stolp verlassen würden. Leopold Neumann, Richter am Amtsgericht in Stolp und strammer Nazi, war für viele Urteile zuständig, die unschuldige Menschen ins Unglück gestürzt hatten. Jetzt  fürchtete er sich vor dem, was eine russische Besatzung für ihn bereithalten würde.

Das Auto, ein Horch, das die Neumanns wegen der Benzinrationierung nur selten fuhren, parkte seit gestern auf der Straße. Eva, Charlottes Mutter, trug zusammen mit dem Dienstmädchen Taschen und Koffer aus dem Haus.

Sollte sie wirklich ihre ältere Tochter mit den Neumanns mitschicken? Elfriede rückte noch enger an das kleine Feuer heran. Marianne war mit ihren 17 Jahren, den dicken blonden Zöpfen, blauen Augen und weiblichen Formen eine große Sorge für die Mutter. Was würde ihr passieren, wenn die russischen Soldaten in Stolp einrückten. Konnte man sie verstecken? Sollten sie versuchen, Marianne als ältere Frau zu verkleiden? Und wenn das bemerkt wurde, welche Strafe drohte ihnen dann?

Mit anderen Frauen hatte Elfriede darüber in den letzten Wochen oft gesprochen. Alle fürchteten sich, viele so sehr, dass sie eine unsichere Flucht oder sogar Selbstmord für eine bessere Lösung hielten, als der roten Armee in die Hände zu fallen. Das Angebot der Neumanns war eine Chance, wenigstens für ihre ältere Tochter.

„ Charlotte, sag deinen Eltern tausend Dank. Ich muss ein bisschen nachdenken und mit meinen Töchtern sprechen. Spätestens um 12 komme ich zu euch und gebe Bescheid.“

Mit einer Umarmung verabschiedete sie das Mädchen und sah ihr durchs Fenster nach. Charlotte hüpfte den vereisten Weg entlang, als ob sie am Abend einen aufregenden Ausflug machen würde. Elfriede seufzte.

Eine Entscheidung musste getroffen werden. Am besten ohne mit Marianne zu sprechen, denn die hatte ihrer Mutter schon seit Tagen in den Ohren gelegen, ihr eine Fluchtmöglichkeit nach Westen zu verschaffen. Schnell zog Elfriede sich an und verließ leise das Haus, ohne die Mädchen zu wecken.

Es hatte letzte Nacht nicht geschneit, aber die Gehwege waren vereist und so rutschig, dass Elfriede sich ein paar Mal an Gartenzäunen festhalten musste, um nicht hinzufallen. Ein grauer Himmel mit vereinzelten schweren Wolken kündigte Schneefälle an.  Die Straße war leer, die Menschen gingen in diesem Februar nur vor die Tür, um nach Brennmaterial zu suchen. Lebensmittel gab es schon seit Wochen kaum noch zu kaufen und wer nichts eingekellert hatte, litt Hunger.

Nur wenige Querstraßen entfernt klopfte Elfriede  an die Tür eines kleinen Gartenhauses. Von drinnen ertönte die helle musikalische Stimme ihrer Freundin Valeska.

„Ja, bitte?“

„Vally, ich bin es, lass mich bitte rein, ich muss mit dir sprechen.“

Elfriede und Vally stammten beide aus dem Ort Schneidemühl. Aufgewachsen in der Strenge des kaiserlichen Deutschlands, beide die ältesten Töchter kinderreicher Familien, waren sie zusammen in die Schule gegangen und hatten das Lehrerkollegium besucht. Während sich die kleine, lebenslustige Vally eher zu Musik und Kunst hingezogen fühlte, war Elfriede eine strenge und doch liebevolle Lehrerin geworden. Ihren Schülern wurde eine gründliche Ausbildung in deutscher Grammatik, Mathematik und Geschichte zuteil.

Vally hatte nie geheiratet. Ihr Verlobter, ein Theologiestudent, war 1918 auf einer Parkbank eingeschlafen und erfroren. Seinen Tod hatte Vally nicht verwinden können. Bis ins hohe Alter sprach sie von ihm als dem geliebten Mann, ein anderer kam  für sie nie in Frage.

Als Elfriede dann 1927 heiratete und mit ihrem Mann nach Stolp zog, bewarb sich Vally noch im selben Jahr um die Stelle einer Musiklehrerin an der Musikschule von Stolp und folgte ihrer Freundin. Die beiden waren in vieler Hinsicht  ein ungleiches Gespann. Vally, klein und rund, immer mit einem fröhlichen Lachen und einem Lied auf den Lippen. Elfriede, hochgewachsen, ein ernstes, fasst verkniffenes Gesicht. An den Pflaumenbaum in ihrem Garten trauten sich die Kinder nicht heran, denn wenn man beim Pflücken erwischt wurde, gab es die Rute.

Seit dem Tod Otto Eggerts, war die Freundschaft der beiden noch enger geworden und für Marianne und Ilse war Tante Vally der willkommene Ausgleich zu einer strengen Mutter.

„Wie verfroren du aussiehst, komm setzt dich mit mir aufs Sofa und wir decken uns mit der Daunendecke zu.“ Vally sah die Freundin fragend an. „Was ist passiert, ist eines der Mädchen krank?“

Schnell erzählte Elfriede vom Besuch Charlottes am frühen Morgen. „Was sollen wir tun? Wenn wir Marianne mitfahren lassen, wie werden wir sie je wiederfinden? Was soll aus ihr werden, falls wir die Flucht nicht schaffen? Werden die Neumanns sich dann um sie kümmern?“ Tausend Fragen und Ängste schwirrten in ihrem Kopf herum.

Vally blickte nachdenklich vor sich hin. Vier Frauen ohne männlichen Schutz, sie und Elfriede, 47 Jahre, Marianne, 17, und Ilse, mit 11 noch ein Kind – sie alle waren in großer Gefahr. Konnte Marianne in Sicherheit gebracht werden, so würde wenigstens sie den Gewalttaten entgehen. Andererseits – jetzt die Familie auseinanderzureißen, war das eine gute Idee?

„Und wenn wir Marianne verstecken, sobald die Russen kommen?”

Aber wo? Welches Versteck würde sicher genug sein, um von den Soldaten nicht entdeckt zu werden? Hin und her ging das erregte Gespräch und schließlich einigten sich Vally und Elfriede darauf, Marianne nicht mit den Neumanns fahren zu lassen. Es war wichtig, dass sie jetzt alle zusammenblieben. Stattdessen wollten sie versuchen, sie so zu schminken und anzuziehen, dass sie wie eine alte Frau aussah und nicht wie ein junges Mädchen.

„So machen wir es.“

Elfriede verabschiedete sich rasch und eilte nach Hause. Sie hatten eine Entscheidung getroffen, die sie für den Rest ihres Lebens bereuen sollten.

In der Falle

Die Neumanns waren am Abend des 15. Februar ohne Marianne abgefahren. Am selben Tag hatten die deutschen Truppen das Unternehmen Sonnenwende begonnen, ein letzter verzweifelter Versuch, die Rote Armee abzuwehren. In den blutigen Schlachten der folgenden Wochen drang die russische Armee immer weiter nach Westen vor. Am 5. März erreichte sie die Ostsee, am  8. März eroberte sie Stolpmünde und noch am selben Nachmittag marschierte sie in Stolp ein.

Marianne hatte auf die Weigerung ihrer Mutter, sie mit den Neumanns fahren zu lassen, zunächst mit Wut und Tränen, schließlich aber mit Schweigen reagiert. Elfriede kam es fast so vor, als ob für ihre Tochter die Trennung von der Freundin schlimmer war, als die Aussicht bald den gefürchteten Russen gegenüberzustehen.  Vorsichtig versuchte sie, mit ihrer Tochter über die Gefahren zu sprechen, die bald auf sie zukommen würden.

Noch in der letzten Februarwoche hatte Vally einen kleinen Handwagen mit ihren Sachen gepackt, das Gartenhaus zugeschlossen, und war zu den dreien gezogen.

„Jetzt können wir abends zusammen singen, brauchen nur Holz für einen Ofen und Elfriede kann sowieso nicht richtig kochen. Ich übernehme das!“, sagte Vally, als sie ihre Sachen ins Haus trug. Sogar Marianne lächelte über die resolute Freundin ihrer Mutter. Von jetzt an würde es nicht mehr ganz so trübe im Haushalt der Eggerts sein.

Und während immer mehr Familien ihre Sachen packten und Stolp verließen, versuchten die vier ein halbwegs normales Leben zu führen. Elfriede unterrichtete die Mädchen am Morgen, mit Vally übten sie Kanons am Klavier. Wenn das Wetter es zuließ, gingen sie nachmittags oft zum Grab Ottos. Er war vor zwei Jahren an Krebs gestorben und besonders Ilse trauerte immer noch sehr um ihren Vater.

Im Herbst 1944 hatte Elfriede einen großen Erdhaufen im Keller angelegt. Alles, was im Garten geerntet wurde, hatte sie dort verbuddelt. Karotten, Kartoffeln, Kohl und Rüben waren so haltbar gemacht worden. Marianne und Ilse hatten viele freie Stunden in den unendlichen Kiefernwäldern verbracht, Blaubeeren gepflügt, Pilze gesammelt und an den Abenden eingekocht und getrocknet.

Vally kochte mit diesen Vorräten Eintöpfe, die Pilze ersetzten das Fleisch, füllten die Mägen und hoben die Stimmung.

Und trotzdem – besonders Ilse war von einer diffusen Angst befallen. Die meisten ihrer Schulfreunde waren fort. Die leeren Häuser mit ihren gardinenlosen, schwarzen Fenstern, die wie tote Augen aussahen, starrten sie unheimlich an, wenn sie auf der Suche nach Brennholz draußen war. Überall auf den Straßen waren Flüchtlinge unterwegs, viele kamen aus Ostpreuβen und sahen verhungert und krank aus. Geschützdonner war jetzt immer öfter und lauter zu hören.

Wodka, Borschtsch und goldene Uhren

Am Tag vor dem Einmarsch der russischen Truppen hatte die deutsche Verwaltung den Räumungsbefehl für Stolp gegeben. Panikartig packten die Menschen Taschen auf Handwagen und reihten sich in den Treck ein. Elfriede, Vally und die Mädchen blieben zurück.

Seit es klar war, dass die Eroberung Stolps unmittelbar bevorstand, war nur noch die beherzte Vally auf die Straße gegangen. Die anderen verharrten vor Angst gelähmt zuhause. Sie sprachen kaum miteinander; warteten angespannt auf das, was nun kommen würde.

Und dann waren sie da.

Die erste Welle der Roten Armee erreichte die Innenstadt kurz vor Einbruch der Dunkelheit. Gewehrschüsse, klirrende Fensterscheiben, Schreie waren zu hören. Einige Stunden später spiegelte sich der Schein gewaltiger Flammen in den Fenstern von Elfriedes Haus. Die Innenstadt brannte.

Wenn man lange Zeit vor etwas große Angst gehabt hat, kann es fast wie eine Erlösung sein, wenn es dann endlich passiert.

Fast so empfanden es die Frauen, als spät in der Nacht die Tür des Hauses eingetreten wurde. Ein Trupp junger Soldaten, bewaffnet und nach Feuer und Schnaps riechend, stürmte hinein. Uhren wollten sie, den Liquör tranken sie aus, rissen alle Schubläden aus den Schränken, nahmen das Silberbesteck, schrien laute Befehle, die Elfriede nicht verstand.

Marianne war bis zur Unkenntlichkeit geschminkt worden. Hässliche Pickel, schwarze Zähne, aschgraue Haut. Die Soldaten würdigten sie kaum eines Blickes. Ilse dagegen streichelten sie über den Kopf.

Nach einer Stunde waren sie fort.

Vally und Elfriede nahmen die Mädchen in die Arme.

„Seht ihr, so schlimm sind sie doch gar nicht!“ Elfriede hob einen umgestürzten Sessel auf und ließ sich erleichtert hinein sinken. Ihre Beine waren schwach vor Anspannung. „Wenn wir ihnen alles geben, was wir an Wertsachen haben, werden sie uns in Ruhe lassen. Marianne, du darfst nicht sprechen, wenn sie wiederkommen. Deine Stimme verrät dich. Ilse, lach die Soldaten freundlich an, sie sind doch wirklich nett zu Kindern.“

 Aufgeregt liefen sie im Durcheinander der umgeworfenen Möbel hin und her, stellten einen Stuhl wieder an seinen Platz, hoben einen Haufen Papiere vom Boden auf. Das war doch jetzt alles nicht so wichtig! Sie hatten die Russen getroffen, das waren auch Menschen, niemand hatte ihnen etwas getan. Und sie, Elfriede, hatte doch Recht gehabt, nicht auf die Flucht zu gehen.

Der ersten Welle russischer Soldaten folgte der Einzug der regulären Armee in Stolp. Zu Fuß, mit Panzern, Pferden und Jeeps zogen sie in die Stadt ein.

Der Morgen des 10. März sah nach endlosen grauen und kalten Tagen wie ein Vorbote des Frühlings aus. Die Sonne kam zögerlich hinter den Wolken hervor und erste Vogelstimmen waren zu hören. Bei den vier Frauen war die erste Erleichterung einem ängstlichen Warten gewichen. Wie würde es nun weitergehen?

Mittags klopfte es heftig an die notdürftig reparierte Haustür. Elfriede, die öffnen ging, nahm es als ein gutes Zeichen, dass man nun anklopfte statt die Tür aufzubrechen.

Drauβen stand ein Jeep. Ein Offizier mittleren Alters stieg aus; die braune Uniform verschmutzt, das Gesicht grau, die Augen eingefallen von Hunger und Müdigkeit.

„Frau“, er zeigte auf die obere Wohnung, die seit Wochen leer stand. Mit Gesten und einigen Worten auf Deutsch, vermischt mit viel Russisch, wies er Elfriede an, sein Gepäck nach oben zu tragen und die Wohnung zu öffnen. Bettdecken und  Brennholz wollte er, auch etwas zu essen. Er war bestimmt, aber trotzdem höflich.

Elfriede und Vally liefen treppauf, treppab. Bald kamen andere Soldaten dazu und auch eine russische Soldatin nahm Bezug in der Wohnung.

Während Marianne im Schlafzimmer versteckt blieb, hatte Ilse sich an dem Herauftragen von Holz, Tellern, Besteck und warmen Decken beteiligt. Neugierig sah sie den Russen zu, die ihre dreckigen Stiefel auf den Tisch legten, übel riechende Zigaretten pafften und lautstark redeten. Einer der Soldaten winkte sie zu sich heran und drückte ihr einen winzigen Bonbon in die Hand. Er hatte freundliche braune Augen, aber seine Gesichtszüge waren slawisch und fremd. Ängstlich machte sich Ilse los und lief die Treppe hinab. Hinter sich hörte sie das Lachen der Soldaten.

Am Abend kochte Vally mit den Zutaten, die der Offizier im Laufe des Nachmittags organisiert hatte, einen richtigen Borschtsch. Das zufriedene Schmatzen und Klappern der Löffel konnte Ilse bis in ihr Zimmer hören. Bis tief in die Nacht lauschte sie dem Singen und den lauten, betrunkenen Stimmen der Soldaten, die es sich nun in der Schillerstraße bequem gemacht hatten.

Entscheidung zum Aufbruch

Der Einzug russischer Soldaten in die Schillerstraβe schien zunächst in vieler Hinsicht ein Glück für Elfriedes Familie zu sein.

Die noch verbliebene deutsche Bevölkerung Stolps, ausschließlich Frauen, Kinder und alte Leute, wurde zu schwersten Arbeiten gezwungen. In den Ruinen der Innenstadt mussten sie Leichen ausgraben, Straßen freiräumen und  Schutt wegkarren.

Elfriede und Vally waren von solchen Arbeiten befreit, denn die ‚Mieter‘ im 1. Stock brauchten die Frauen zum Kochen, Putzen, Waschen und Singen.

Seit sie das Klavier in Elfriedes Wohnung entdeckt hatten, kamen sie abends oft betrunken herunter. Vally spielte nach Gehör die melancholischen Melodien und die Soldaten sangen. Voller Heimweh und Trauer. Das waren Momente, in denen die Menschen in der Schillerstraße sich trotz allem ein bisschen näher kamen. Viele der Lieder hat Vally nie vergessen.

Die Arbeit war nicht zu schwer, körperliche  Übergriffe hatte es bisher nicht gegeben und von dem Essen, das sie für die Russen kochten, konnten die Frauen genug abzweigen, um selber nicht zu verhungern.

Im Vergleich mit den meisten Deutschen in Stolp, die nur noch durch Stehlen überleben konnten, ging es den vieren gut. Doch dieser Friede hielt nicht lange an.

Während Ilse den beiden Frauen tagsüber half, hielt Marianne sich fast ununterbrochen im Schlafzimmer versteckt. Selten kam sie heraus, um etwas zu essen oder das Badezimmer zu benutzen.

Doch dann passierte es.

An einem Samstagabend, als die Soldaten besonders laut feierten und Elfriedes Wohnung tanzend und singend in Beschlag genommen hatten, drangen sie plötzlich in das Schlafzimmer ein. Sie zogen Marianne aus dem Bett und ein junger Russe wischte ihr mit dem Ärmel über das Gesicht. Lachend zeigte er auf die gesunde Haut, die da unter der Aschfarbe zum Vorschein kam. Binnen kurzem war das Schlafzimmer mit Schreien und Rufen erfüllt, Soldaten drängelten sich hinein, wollten Marianne sehen, wollten Marianne anfassen.

Während Elfriede versuchte, ihre Tochter zu schützen, raste Vally die Treppe hinauf, um den Offizier zu holen. Er war über die Wochen freundlich und niemals zudringlich gewesen. Es war ihm wohl bewusst, dass die Frauen Essen für sich selbst abzweigten. Vielleicht dachte er an seine eigene Familie, die in Russland zurückgeblieben war, dort ebenfalls ums Űberleben kämpfte und  Hunger litt.

Vally fand ihn fest schlafend auf dem Sofa. Ihn wachzurütteln schien unmöglich zu sein, die Wodkaflasche auf dem Nachtisch war fast leer.

Vally rannte die Treppe wieder hinunter und hörte noch von oben Elfriedes Stimme: „Lasst meine Tochter in Ruhe, nehmt mich! Bitte, lasst sie doch in Frieden.“

Ein lautes Schluchzen folgte.

Doch als Vally das Schlafzimmer erreichte, hatte sich die Situation wie durch ein Wunder völlig gewandelt.

Bisher war die russische Soldatin kaum aufgefallen. Sie war wohl die Sekretärin, vielleicht auch Geliebte des Offiziers. Still und freundlich war sie gewesen. Nun stand sie drohend und laut auf Russisch schreiend vor dem Bett. Die jungen Soldaten schienen fast Angst vor ihr zu haben. Was sie da sagte, konnte Vally nicht verstehen, aber sie spürte, dass sie Marianne verteidigte! Oh, es gab doch noch gute Menschen in dieser Welt. Vally schossen die Tränen in die Augen. Sie drängelte sich zum Bett durch und zusammen mit der Soldatin gelang es, die Männer aus dem Zimmer zu stoßen, zu schubsen, zu schieben.

„Danke, spasibo“, Elfriede hielt die Hand der Russin für einen Moment ganz fest. Dann war auch die verschwunden und sie verschlossen die Schlafzimmertür von innen.

Lange dauerte es, bis die Mädchen sich etwas beruhigt hatten und zu Bett gingen. Elfriede und Vally aber schliefen beide nicht in dieser Nacht.

Im Morgengrauen, als die Soldaten endlich zur Ruhe gekommen waren, schlichen sie leise in die Küche. Zwischen umgefallenen Flaschen, zerbrochenen Gläsern, schmutzigen Tellern, bahnten sie sich den Weg zum Herd und wärmten Wasser für Tee. Damit setzten sie sich an den Küchentisch.

„Elfriede, wir müssen weg!“ Vally sprach mit fester Stimme. „Das, was letzte Nacht passiert ist, wird sich wiederholen. Dann kann niemand uns helfen. Es ist nicht mehr so kalt, wir werden nicht erfrieren. Lass uns heute noch packen und verschwinden. Je länger wir bleiben, umso gefährlicher wird es für Marianne und vielleicht auch für uns beide.“

Elfriede hatte die Hände um die warme Tasse gefaltet. Ja, Vally hatte Recht. Wie sehr sie auch gehofft hatte, dass sie würden bleiben können. Das, was hier passierte, konnte sie nicht ertragen. Würde ihre Tochter das Opfer einer Vergewaltigung werden, dann wollte sie nicht mehr leben.

Elfriede nickte, langsam hob sie die Augen und blickte ihre Freundin entschlossen an. „Wir gehen heute Nacht.“

Du!

Nun war es den Deutschen nicht verboten Stolp zu verlassen. Im Gegenteil, es war ja im Interesse Stalins, den Osten Deutschlands frei zu machen, um Raum für die Westverschiebung Polens und dessen Bevölkerung zu schaffen.

Trotzdem, Elfriede und Vally waren nicht sicher, wie die Russen im oberen Stockwerk auf ihre Flucht reagieren würden. Deshalb ging das Packen in großer Heimlichkeit vor sich. Zwei kleine Koffer wollten sie auf den Handwagen schnallen, dazu jede einen Rucksack mit soviel Nahrungsmitteln schultern, wie sie den Tag über zusammentragen konnten. Das war alles.

In die Koffer kamen zwei Photoalben, das Stammbuch, Zeugnisse, ein bisschen Wäsche, warme Kleidung und ein kleines Gemälde.  Elfriede hatte es für Ilse zum Geburtstag gekauft, es zeigte den Kiefernwald und Strand in Stolpmünde, Ilses liebster Platz auf der Welt. Vielleicht ahnten sie, dass sie nie wieder zurückkommen würden.

Den Tag über gruben sie im Keller Kartoffeln aus, kochten sie und füllten die Rucksäcke mit allem Essbaren, was zu finden war. Als es Nacht wurde und im 1. Stock Stille eingekehrt war, zogen die vier alle warmen Sachen übereinander, die sie hatten. Marianne war bis zur Unkenntlichkeit geschminkt und in den zwei warmen Mänteln, die sie trug, wirkte sie unförmig und plump.

Noch vor dem ersten Morgengrauen schlichen sie hinaus. Ein letzter Blick auf das Haus, den Garten; würden sie das alles je wiedersehen?

Als sie die Schillerstraße hinter sich gelassen hatten, atmete Elfriede auf. Die Russen hatten nichts bemerkt, nun galt es, aus der Stadt herauszukommen.

Vorbei an der stark zerstörten Marienkirche, verbrannten Häusern und Geschäften ging ihr Weg. Stolp war bis zur Unkenntlichkeit verwüstet. Keine sprach ein Wort. Erschüttert und kalt vor Angst trafen sie schließlich auf die Stolpmünder Chaussee, die sie westwärts aus der Stadt hinausführen sollte.

Es waren bereits einige Menschen auf der breiten Straße, sie schoben Handwagen, Kinderwagen oder hatten einfach nur eine Tasche über dem Arm. Sie alle hatten lange gewartet, auf die Flucht zu gehen.  Viele hatten, wie Elfriede, nicht wahrhaben wollen, dass eine russische Besatzung das Ende ihres Lebens in der Heimat bedeutete. Nun wollten sie fort.

Nach wenigen hundert Metern sah Vally die Straßensperre, die sich über die ganze Breite der Chaussee zog.

Die Rote  Armee hielt ständig Ausschau nach brauchbaren deutschen Arbeitskräften und konfiszierte alle Arten von Wertgegenständen.

Zwei bewaffnete Soldaten, in je einer Fahrtrichtung stehend, kontrollierten die Menschen. Da fast niemand nach Stolp hinein wollte, viele aber hinaus, hatte sich auf der rechten Fahrbahn eine Schlange von etwa 50 Flüchtlingen gebildet.

Von hinten beobachteten Elfriede und Vally was vorne passierte.

Der Soldat durchsuchte Kinderwagen und Taschen. Von Zeit zu Zeit nahm er Gegenstände heraus und warf sie zur Seite. Das Wichtigste aber war, dass alle den Kontrollpunkt passierten.

Ganz dicht standen Ilse und Marianne hinter den Frauen. Vally nahm die Hände der beiden und flüsterte ihnen zu. „Ihr dürft nicht sprechen und den Soldaten nicht ansehen, wenn wir an der Reihe sind. Bleibt ganz dicht bei mir und lasst Elfriede mit dem Handwagen vorgehen.“

Die Schlange bewegte sich in unendlicher Langsamkeit voran.

Und dann standen sie vor dem Soldaten.

Er wies Elfriede an, einen der Koffer zu öffnen, stocherte kurz mit dem Gewehr darin herum, fand aber nichts von Interesse. Schon war Elfriede an ihm vorbei. Nun kamen Vally und die Mädchen. Kurz blickte er Vally an, sie ging an ihm vorbei, zog die Mädchen hinter sich her.

Als sie fast bei Elfriede waren, hörten sie seine Stimme. „Du!“

Das Gewehr auf Marianne gerichtet wies er sie mit einer Bewegung des Kopfes an, an die Seite zu treten. Mit der freien Hand zog er die Mütze von ihrem Kopf, unter der die langen Zöpfe zum Vorschein kamen. Er stieß sie grob gegen die Brust, so dass Marianne zur Seite fiel.

Dann hob er drohend das Gewehr gegen die beiden Frauen und befahl ihnen, weiterzugehen.

Ein Schrei kam aus Elfriedes Mund, sie hob die Hände und streckte sie ihrer Tochter entgegen, die auf dem Boden lag.

Marianne sah ihre Mutter an. Kaum drei Meter trennten sie und doch waren diese Meter eine unüberbrückbare Entfernung. Eine Entfernung, die das Leben vom Tod trennte.

„Du bist schuld.“ Mariannes  Augen waren hart, ihre Stimme tonlos. Dann wandte sie sich ab.

Auf dem Weg nach Westen

Vielleicht einen Kilometer liefen Elfriede, Vally und Ilse, bevor sie im Straßengraben niedersanken. Weinend und jammernd hielten sie einander umarmt. Ilse wurde von Schluchzen geschüttelt. Keine einzige Frage stellte sie.

Intuitiv war ihr klar, dass sie ihre Schwester verloren hatte und durch die Verzweiflung der beiden Frauen konnte sie fühlen, dass dies für immer war.

Stumm und taub vor Schmerz machten sich die drei schließlich auf den Weg.

Es war Mitte April und das Wetter noch nicht warm. Der lange, schneereiche Winter hatte den Pegel der Flüsse ansteigen lassen. Alle Wege waren matschig und es war unmöglich, einen trockenen Platz zu finden, wo sie sich hinsetzen und ausruhen konnten. Nach nur wenigen Kilometern waren ihre Schuhe durchnässt, und eine klamme Kälte breitete sich im Körper aus.

Trotz allem war es erträglicher, jetzt zu Fuß unterwegs zu sein, als im Februar, wo nicht nur die Kälte, sondern vor allem die Schneemassen ein Vorwärtskommen oft unmöglich gemacht hatten.

Den ganzen Tag liefen sie, fast ohne ein Wort.  Mit jedem Kilometer, den sie sich von Stolp und damit auch von ihrer Tochter entfernte, wurde Elfriede bewusster, welchen Fehler sie gemacht hatte. Mit ihrem Wunsch, die Familie zusammenzuhalten, hatte sie eine unermessliche Schuld auf sich geladen. Dieser Gedanke würde meine Groβmutter von nun an immer begleiten.

Der Treck nach Westen war ein Kampf ums Űberleben. Es galt, etwas zu Essen zu finden, einen Schlafplatz zu organisieren, zusammenzubleiben. Hinter der Roten Armee folgten die Flüchtlinge und sie liefen in den Spuren der Zerstörung.

Jeder, so schien es, war jetzt auf sich selbst gestellt. Űber Straßen, Wald- und Feldwege liefen die drei im Schnitt 10 – 15 Kilometer am Tag.

Das Elend, das ihnen überall begegnete, war unvorstellbar. Ilse, 11 Jahre alt, sah Verhungerte, Ermordete, achtlos am Straßenrand liegengelassen, weil keiner mehr die Kraft aufbrachte, sie zu beerdigen. Sie sah sprachlose Menschen, die am Wegrand ausruhten und einander nicht beachteten, die kranken Augen in das Nichts gerichtet. Sie zogen an vor Hunger schreienden Tieren vorbei, an Pferden, die im Graben verreckt waren und aus denen Vorbeiziehende Fleischbrocken herausgeschnitten hatten. All diese Bilder  brannten sich in das Gedächtnis des Kindes ein.

Nach wenigen Tagen waren die Essensvorräte der drei verbraucht und der Hunger begann. Die Bauern, die noch auf ihren Höfen verblieben waren, zeigten sich zwar am Schwarzhandel interessiert, nicht aber daran, die endlose  Schar der Flüchtlinge umsonst zu versorgen.

So blieb den Frauen nichts anderes übrig, als zu stehlen. Diebstahl, das war in den Augen  Elfriedes, die doch selbst ihren Pflaumenbaum in Stolp vor den Kindern verteidigt hatte,  ein unverzeihliches Vergehen.

Vally dagegen sah die Situation pragmatischer.

„Wenn wir nichts zu essen finden, werden wir in wenigen Tagen zu schwach sein, um weiterzulaufen. Wenn wir nicht klauen, hätten wir ebenso gut in Stolp bleiben können. Dann wären wir da umgekommen.“

Schließlich willigte Elfriede ein. 

Ӓhnlich wie Oliver Twist wurde nun Ilse in der Kunst des Diebstahls geschult. Denn sie war diejenige, die das Stehlen übernehmen sollte. Wurde ein Erwachsener erwischt, so konnte das die sofortige Erschieβung bedeuten. Ein Kind dagegen würde vielleicht Mitleid erwecken.

In einen großen Mantel nähte Vally zwei  Innentaschen. Sie zeigte Ilse, wie man unbemerkt etwas einsteckt und trotzdem seine Umgebung beobachtet.

Schließlich zog Ilse los.

Aber wo sollte sie etwas zu essen finden? Geschäfte gab es längst nicht mehr. Von den anderen Flüchtlingen zu stehlen, das traute sie sich nicht.

In einem kleinen Ort kam ihr ein abgemagerter Hund entgegen. Seit Wochen hatte Ilse keine Hunde oder Katzen mehr gesehen, sie waren längst alle geschlachtet worden.

Erstaunt betrachtete sie ihn genauer. Er trug einen Knochen im Maul! Ilses Blick folgte der Richtung, aus der der Hund gekommen war. Dort lag die Russische Kommandantur.

Ӓngstlich schlich sie näher. An der Seite des Hauses waren Mülltonnen zu sehen. Und wirklich – ähnlich wie der Hund durchwühlte Ilse die Tonnen. Dazu musste sie einen schweren Holzklotz an die Tonnen ziehen, den sie als Stuhl benutzte. Bei jedem Geräusch versteckte sie sich. Klein und so mager wie sie war, war das kein Kunststück.

Wenig später kam ein ernst blickendes Kind die Straße entlang. Es trug einen Mantel, der  nicht nur viel zu groß war, er hing auch ausgebeult fast bis auf den Boden.

Vally und Elfriede konnten ihr Glück kaum fassen, als Ilse, bei ihnen angekommen, den Mantel fallen lieβ.

Kartoffelschalen, vergorenes Obst, mehrere Kanten verschimmeltes Brot. An diesem Abend gab es ein Festessen und das erste Mal seit langem schliefen sie ohne Hunger ein.

Am folgenden Morgen machten sich die drei wieder auf den Weg. So liefen sie einen ganzen Monat, über Köslin und Kolberg, bis sie im Mai nach 270 Kilometern Stettin erreichten. Die Oder lag vor ihnen.

Meine Mutter, das Kind

Ilse wurde im November 1933 geboren. Meine Großmutter Elfriede war nach der Geburt Mariannes 1928 lange nicht wieder schwanger geworden und so lagen fünf Jahre zwischen den Mädchen.

Zwar hatten die Eltern auf einen Stammhalter gehofft, aber über die Geburt einer gesunden Tochter waren sie beide froh, hatten sie doch kaum noch ein zweites Kind erwartet.

War Marianne eher still und saß bei der Mutter auf dem Schoß, so wuchs Ilse als der Liebling ihres Vaters auf. Otto, von Beruf Straßenbauingenieur, ein liebevoller und weichherziger Mann, verbrachte viel Zeit mit seiner Tochter. Besonders die Wochenendausflüge nach Stolpmünde vereinten die beiden.

Von Mai bis in den späten September bestieg die Familie am Sonntagmorgen die Eisenbahn und fuhr mit Picknickkorb, Badesachen und der Zeitung ausgerüstet in das schöne Seebad. Breite Sandstrände, ein Kiefernwald, der bis an den Strand reichte, und die flache Ostsee – das war Ilses Kindheitsidylle.

Die ganze Saison über mieteten sie einen Strandkorb, den sie am Sonntagnachmittag mit einer Holzplatte verschlieβen konnten. Er diente als Schutz vor dem Wind, Hochsitz für meine Mutter, Sitzgelegenheit für die Eltern und Esszimmer, damit der Sand nicht das Picknick verdarb.

Bei Sonne, Regen und Sturm verbrachten die Eggerts dort ihren freien Tag. Ilse lernte früh schwimmen, sie machte Ausflüge in den Wald und kam mit Pilzen zurück, die ihr Vater sie zu bestimmen lehrte. Während Marianne gerne in der Sonne lag und ein Buch las, tobte Ilse am Meer herum.

Es sind diese Erinnerungen, die Ilse die Flucht überstehen helfen. Die Bilder von jenen Jahren am Strand,  zusammen mit ihrem Vater, im Wasser, im Wald, im weichen Sand. Dort träumte sie sich hin, während sie einen Fuß vor den anderen setzte. Die Sehnsucht nach Pommern wird sie ein Leben lang begleiten, nicht nur als Trauer, auch als ein Schatz.

Und immer weiter

Stettin war Ende April von der Roten Armee erobert worden. Die Wehrmacht hatte auf ihrem Rückzug alle Eisenbahn– und Straβenbrücken über der Oder gesprengt. Hafenanlagen und Innenstadt waren ebenfalls dem Erdboden gleichgemacht worden.

Das Rote Kreuz half den dreien, eine Unterkunft für die Nacht zu finden und gab eine warme Suppe an die Flüchtlinge aus.

Am nächsten Morgen überquerten sie die Oder. Die zwei noch bestehenden Viadukte dienten als einzige Verbindung zum anderen Ufer.

Welche Richtung sollten sie jetzt einschlagen? Ihr Ziel war Thüringen, wo einer der Brüder Elfriedes eine Zuckerfabrik besaß. In ihrem letzten Briefwechsel vom Dezember 1944 hatte Willi seine Schwester gedrängt, zu ihm zu kommen.

Der gefahrlosere Weg führte an der Oder entlang, über Schwedt, Frankfurt an der Oder, Cottbus und Dresden nach Naumburg. Wenn sie diesen Weg nahmen, kämen sie nicht so oft durch große Städte und würden wahrscheinlich seltener auf Soldaten treffen.

Der schnellere Weg führte über Berlin, denn auf diesem Weg  war die Chance groβ, dass sie auf Güterzüge treffen würden, auf denen sie einen Teil der Strecke mitfahren konnten. Aber das bedeutete, im Treck zu bleiben und vor allem, die zerstörte Hauptstadt passieren zu müssen. Vor dieser Gefahr grauste es den Frauen

Schließlich siegte die Vorsicht. Elfriede, Vally und Ilse hielten sich südlich, sie liefen an der Oder entlang und verließen damit den Hauptweg des Flüchtlingszuges.

In vieler Hinsicht war das eine richtige Entscheidung. Die Jahreszeit war mild und an den Ufern des Flusses sahen sie Störche und Reiher. Nicht, dass die drei dem Naturschauspiel  groβe Aufmerksamkeit geschenkt  hätten. Aber unmerklich fiel trotzdem ein Teil der ungeheuren Anspannung von ihnen ab. Vielleicht nahmen sie unbewusst die Ruhe in sich auf, auch wenn ihr Blick meistens nach innen gerichtet war.

Drauβen zu schlafen bedeutete hier keine große Gefahr mehr und im Fluss konnten sie sich sogar waschen, eine Wohltat, die sie seit dem Verlassen Stolps nicht mehr erlebt hatten.

Die  Städte und Dörfer, durch die sie jetzt zogen, waren ebenfalls zerstört, doch gab es weniger Flüchtlinge. Von Zeit zu Zeit stieβen sie auf einen intakten Bauernhof und auch auf Menschen, die hilfsbereit waren. Einige Male lieβ man sie in Ställen übernachten. Manche Bauern gaben ihnen etwas Milch und Ilse war auch weiterhin oft mit dem groβen Mantel unterwegs. Sie entwickelte ein untrügliches Gespür für ‚gute‘ Mülltonnen.

Im Juni erreichten sie endlich Dresden. Seit zwei Monaten waren die drei unterwegs. Sie waren abgestumpft von dem Grauen, das sie gesehen und erlebt hatten. Abgemagert bis auf die Knochen, körperlich und geistig müde, wirkten sie wie Schatten ihres früheren Ichs.

Die Bombardierung der Alliierten hatte im Februar 25 000 Menschen das Leben gekostet und die Innenstadt Dresdens völlig zerstört.

Die Frauen wollten so schnell wie möglich um die Stadt herumgehen. In der Ferne sahen sie russische Soldaten, die ein Lager neben der Straße aufgeschlagen und sich zum Essen niedergelassen hatten.

Jedes Zusammentreffen mit der Roten Armee war gefährlich. Elfriede wechselte die Straßenseite und beschleunigte den Schritt. Ilse war zurückgefallen, es war warm in der Sonne und sie waren seit dem Morgengrauen gelaufen. Sie fühlte sich müde.

Plötzlich ertönte ein Pfiff von der anderen Straßenseite. Ein junger Soldat winkte Ilse zu und zeigte mit Gesten, dass sie zu ihm herüberkommen sollte. Ilses erster Gedanke war, davonzurennen. Vally hatte den Soldaten nun auch bemerkt und blieb stehen. „Bleib hier auf der Seite, ich geh rüber und finde heraus, was er will.“

Vally kreuzte die Straβe. Doch nein, der Soldat schüttelte bestimmt den Kopf. „Kind“, wieder winkte er Ilse heran.

Was sollte sie tun? Langsam ging Ilse auf die andere Seite und stellte sich dicht neben Vally.

Der junge Soldat hatte einen Blechnapf in der Hand, aus dem Dampf und ein guter Geruch aufstieg. Er hielt Ilse den Löffel hin und zeigte auf den Napf.

„Du sollst essen“, flüsterte Vally.

Zögerlich nahm Ilse den Löffel und tauchte ihn in den Essnapf. Sie nahm einen Bissen, dann wollte sie den Löffel zurückgeben. Doch der Soldat gestikulierte.

„Mehr, du kannst mehr essen.“

Halbleer war der Napf, als er schließlich den Löffel wieder entgegennahm, Ilse freundlich anlächelte und sich den anderen Soldaten zuwandte.

Vally legte Ilse den Arm um die Schulter und überquerte mit ihr die Straβe, wo Elfriede im Schatten auf sie wartete. Vally sah ihre Freundin an. „Wir haben so viel Schreckliches erlebt. Lass uns diesen freundlichen Menschen trotz allem nie vergessen.“

Im Juli 1945 kamen sie in Naumburg an, sie waren drei Monate gelaufen, hatten  700 Kilometer zurückgelegt, hatten tausende Male um ihr Leben gefürchtet und ein Leben zurücklassen müssen.

Teil 2: Leben in der sowjetischen Zone / DDR

Zitronenlimonade und ein Bett

Naumburg an der Saale ist eine Kleinstadt in Thüringen, wunderschön gelegen zwischen sanften Hügeln, die Flüsse Saale und Unstrut fließen in der Ebene zusammen. Das milde Klima ist gut für den Obst- und Weinanbau und die Menschen sprechen einen breiten, liebenswerten  Dialekt, der in die Landschaft passt.

Vor dem Krieg hatte Naumburg eine Bevölkerung von ca. 28 000 Menschen, im Juli 1945 waren noch einmal so viele Flüchtlinge dazugekommen und die Stadt musste fast 60 000 Menschen beherbergen.

Im April war Naumburg von den Amerikanern besetzt worden, doch nun, als Elfriede, Vally und Ilse ankamen, fiel Naumburg in die sowjetische Besatzungszone.

Der Dom war erhalten und auch ein Teil der Altstadt unzerstört. Für die drei wirkte die Stadt fast wie eine heile Welt, verglichen mit dem, was sie gesehen hatten. Es existierten noch so etwas wie intakte Strukturen, die hatten sie seit dem Verlassen Stolps nirgendwo mehr gesehen.

Es war Sommer und die warmen Mäntel längst im Handwagen verstaut. Von Naumburg waren es noch 16 km in nordwestlicher Richtung, dann würden sie am Ziel sein.

Elfriedes Bruder Willi besaß seit Jahren eine Zuckerfabrik in Laucha an der Unstrut, ein kleiner Ort, die Fabrik war der größte Arbeitgeber im Dorf.

Am frühen Morgen machten sich die drei auf ihre letzte Etappe.

Sie liefen am Ufer der Unstrut entlang, folgten den Windungen des kleinen Flusses, vorbei an grünen Feldern und Waldgebieten. Mittags machten sie Pause und zogen die Schuhe aus, um die müden Füβe im Wasser baumeln zu lassen. Fast hätte man denken können sie seien auf einem Sonntagsausflug, so schön und friedlich war es hier. Doch den eingefallenen Gesichtern hätte ein Beobachter wohl angesehen, dass dem nicht so war.

Am Nachmittag tauchte Laucha vor ihnen auf.

Dieser letzte Marsch, es war ein Tag, an dem die drei nach vielen Wochen erstmals mehr als das Nötigste sprachen. Was würde sie erwarten? Elfriede hoffte natürlich, dass die Fabrik noch bestand, vor allem aber, dass einige ihrer zahlreichen Geschwister auch den Weg hierher gefunden hatten. „Du wirst sehen Ilse, deine Cousinen aus Schneidemühl werden auch da sein. Wie schön wird das für dich, wieder andere Kinder zum Spielen zu haben.“

Spielen … das hatte Ilse in den letzten Monaten fast verlernt.

Mit Vally sprach Elfriede leise über Marianne. Sie hatte Angst, ihren Geschwistern von der Verschleppung zu erzählen. Diese Schuld lastete schwer auf ihren Schultern und lieβ sie nachts oft wach liegen. Vielleicht würde die Familie sich von ihr abwenden.

„Jedem hat das passieren können, Elfriede. Deine Vorsicht war doch gut gemeint. Wäre Marianne mit den Neumanns gefahren, hätte das auch keine Garantie für ihr Űberleben bedeutet.“

Die letzten Straßen – da lag die Fabrik, sie war unzerstört und aus dem Hof hörten sie Kinderstimmen.

Die Erleichterung und Wiedersehensfreude der ganzen Familie war unbeschreiblich. Umarmungen und Tränen, tausend Fragen, kurze Berichte, Kinderlachen, das erste Mal seit Monaten.

Charlotte, Elfriedes jüngere Schwester, hatte die Flucht mit ihren zwei Kindern geschafft. Ihr Mann war im Krieg gefallen. Bruder Kurt war aus dem Krieg zurückgekehrt und arbeitete als Arzt in Naumburg.

Willi, der eine wichtige Funktion als Betreiber der Fabrik innehatte, war nicht als Soldat eingezogen worden. Die Beschaffung der Zuckerrüben war während der letzten Kriegsmonate schwierig geworden, aber die Fabrik stand und arbeitete noch.

Charlotte machte Zitronenlimonade und Kartoffelsalat, und so saß ein Teil der  großen Familie an diesem lauen Juliabend im Garten. Jeder erzählte ein bisschen, meist waren es praktische Dinge, über die sie sprachen.

Von der Zerstörung Stolps und Schneidemühls, welche Bekannten geflohen waren, dass Charlotte das Familiensilber hatte retten können.

Űber die Grausamkeiten, die sie alle erlebt hatten, sprachen sie nicht und auch Mariannes Verschleppung wurde nur vorsichtig erwähnt. Nur sehr zögerlich werden sie später davon erzählen, das meiste aber verschlossen sie in sich und haben es niemals bewältigen können.

Doch an diesem Abend war die Familie wieder zusammen, wenigstens ein Teil von ihr. Im Verwaltungshaus war genug Platz für die drei. Vally und Elfriede bekamen ein eigenes Schlafzimmer und Ilse wurde zu ihrer Cousine Gesine ins Bett gepackt. In dieser Nacht schlief sie 15 Stunden.

Ein neues Zuhause

Reparationen sind Entschädigungen, die ein besiegtes Land den Siegern bezahlt. Die Alliierten hatten nach Kriegsende das Auslandsvermögen des Deutschen Reichs beschlagnahmt, Patente eingezogen und Devisen kassiert. Die Sowjetunion als das Land, das die schlimmsten Kriegsschäden erlitten hatte, erhielt das Recht zu Sachlieferungen und  zur Demontage von Fabriken aus ihrer Besatzungszone. Ca. 2 400 Betriebe wurden demontiert und per Zug nach Russland verfrachtet.

Einer von diesen Betrieben war Willis Zuckerfabrik, und als Besitzer und Leiter wurde er gezwungen mitzugehen. Der Befehl wurde Ende August zugestellt und schon ab dem 1. September sollte das Haus geräumt werden und der Abbau der Maschinen in der Fabrik beginnen. Wieder ein Abschied mit ungewissem Ausgang.

Für die drei aus Stolp bedeutete Willis Weggang, dass sie sich wieder auf den Weg machen mussten. Zwei Monate hatten sie sich ausgeruht, trotz der katastrophalen Ernährungslage einigermaßen zu essen bekommen, Ilse hatte gespielt und war in der Unstrut geschwommen. Elfriede und Vally hatten beide ein bisschen zugenommen und viel über die Zukunft gesprochen. Wie sollte es weitergehen?

Über den Suchdienst des Roten Kreuzes war Vallys Bruder gefunden worden, er war nach Nürnberg geflohen und arbeitete bereits. Nach langem Überlegen entschloss sich Vally, zu ihm zu ziehen.

Elfriede dagegen musste sich auf Arbeitssuche machen.

Eine zum Teil entnazifizierte deutsche Verwaltung war im Landkreis bereits unter amerikanischer Besatzung eingesetzt worden. Zu den unübersehbaren Aufgaben, die sie zu bewältigen hatte, gehörte es auch, das Schulwesen wieder in Gang zu bringen. Die meisten Kinder waren seit Ende 1944 nur noch sporadisch oder gar nicht mehr zur Schule gegangen.

Als Ostumsiedler hatte Elfriede gute Chancen, eine Anstellung zu finden. Umsichtig, wie sie war, konnte sie alle Zeugnisse ihres Studiums vorlegen und nach nur wenigen Wochen erhielt sie ein Anschreiben, dass der Ort Golzen eine Lehrerin für die Dorfschule brauchte.

Mitte September trennten sich die Weg der drei Stolperinnen. Elfriede und Ilse brachten Vally zum Bahnhof, sie würde sich auf die beschwerliche und lange Zugreise nach Nürnberg machen. Viele Tage mit endlosem Warten und überfüllten Zügen standen ihr bevor. Eine feste Umarmung und hundert Versprechen, sich oft zu schreiben. „Auf ein baldiges Wiedersehen, meine liebe Freundin!“ – dann war Vally fort.

Mutter und Tochter aber zogen aufs Dorf.

Die Schulbehörde hatte nicht nur für eine Anstellung gesorgt, sie kümmerte sich auch um die Unterbringung der künftigen Dorfschullehrerin.

Bei der Bauernfamilie Radestock stand ein Zimmer für die beiden bereit. Ilse und Elfriede packten wieder den Handwagen, der wie ein Wunder die Flucht überstanden hatte, und zogen ins zwei Kilometer östlich gelegene Dorf.

Welch friedliche Welt. Golzen hatte nur ein paar Hundert Einwohner. Neben Bahnhof, Gaststätte, Kirche und Schule schmückte ein kleiner Platz  mit alter Linde und Bänken die Mitte des Dorfes. Die meisten Einwohner waren Bauern.

Die Radestocks betrieben einen landwirtschaftlichen Kleinbetrieb, verfügten über einen Hektar Land, Geflügel, Kaninchen und ein paar Kühe. Da der Anbau von Kartoffeln und Rüben zur Versorgung im kommenden Winter eine vorrangige Aufgabe war, half die ganze Familie, hauptsächlich Frauen, Kinder und der alte Herr Radestock bei der Arbeit.

Trotzdem nahmen sie sich Zeit für einen herzlichen Empfang der beiden Ostumsiedler. Die schöne Wendung, jemand hat ‚das Herz auf dem rechten Fleck‘, sie traf für die Radestocks im besten Sinne zu.

Ilse wurde mit Milch und viel Gemüse aufgepäppelt. Elfriedes etwas hochnäsige Art gegenüber den ‚einfachen‘ Bauern nahmen sie mit einem Schmunzeln hin. Lange hielt sie das auch nicht durch. Bald schon war auch Elfriede von der bodenständigen Freundlichkeit der Radestocks entwaffnet und man sah sie zusammen mit den Bäuerinnen Kartoffeln schälen.

Am 15. September eröffnete die einklassige Landschule Golzen das Schuljahr und meine Großmutter unterrichtete 30 Kinder aller Alterstufen von der ersten bis zur sechsten Klasse in einem Raum. Ilse sollte die sechste Klasse wiederholen; sie war nun eine von Elfriedes Schülerinnen.

Eine solche Klasse zu unterrichten stellt enorme Anforderungen an den Lehrer. 30 Kinder mit verschiedenstem Vorwissen, Aufgaben und Alter müssen beschäftigt, diszipliniert und gefördert werden.

Für Elfriede war die Arbeit wie eine Gesundung nach langer Krankheit. Endlich hatte sie wieder einen Lebensinhalt, musste nicht mehr so viel nachdenken und konnte etwas Sinnvolles tun.

Die Älteren bekamen ihre Aufgaben am Morgen, dann ging sie mit den Kleinen auf Spaziergänge. Sie lehrte die Kinder das ABC mit einem Lied, Vögel nach ihrem Gesang, rechnete mit Kastanien, und ließ sie dann, zurück in der Klasse, schreiben und malen. Die Fünft- und Sechsklässler waren dann mit Erdkunde und Mathematik dran.

Nur in Geschichte wusste Elfriede nicht, was man jetzt unterrichten sollte. Die ‚Wahrheit‘ der letzten zwölf  Jahre, sie war ja  auf einmal nicht mehr gültig. Das Fach wurde erst mal  – wie  an vielen Schulen – einfach nicht behandelt.

Auch wenn Elfriede mit ihrer Schar an dem kleinen Ehrendenkmal für die russischen Soldaten vorbeiging, blieb sie stumm und beantwortete kaum die Fragen der Kinder. Die siegreiche Rote Armee, die die Deutschen vom Faschismus befreit hatte – ihr hatte sie den Verlust ihrer Heimat und ihrer Tochter gebracht.

Im kleinen Golzen sprach sich bald herum, dass Elfriede eine gute Lehrerin war und die Kinder gerne in die Schule gingen. Die Golzener grüβten sie freundlich auf der Straße und schickten kleine Geschenke mit in die Schule. Abends saßen die Eggerts bei den Radestocks in der Küche und erzählten Geschichten.

Die Hungerwinter 1946 und 1947, in denen in Deutschland mehrere hunderttausend Menschen starben, überstanden die beiden mit Hilfe der Bauern. Sie hatten so etwas wie ein neues Zuhause gefunden.

Entfremdung

Noch Ende 1945 hatte Elfriede sich an den Suchdienst des Roten Kreuzes gewandt. 20 Millionen Menschen galten nach dem Krieg als vermisst und überall in den Städten hatten Menschen Suchkarten aufgehängt. An Litfasssäulen, Hauswänden, Anschlagtafeln, überall sah man Fotos und Beschreibungen von Vermissten. In den Wochenschauen der Kinos wurden Fotos von Kindern gezeigt, die ihre Eltern suchten.

Elfriedes Suchkarte zeigte ein Foto von Marianne, aufgenommen im Sommer 1944, und folgende Beschreibung: „Wer weiβ etwas über Marianne Eggert? Sie wurde im April 1945 in Stolp / Pommern bei einer Straβenkontrolle von der Russischen Armee verhaftet. Sie ist 17 Jahre alt, mittelgroβ, hat lange blonde Haare, blaue Augen und trug bei ihrer Verhaftung einen schwarzen, langen Wintermantel. Angaben werden beim Roten Kreuz in Naumburg entgegengenommen.“

Auch wenn es wenig Hoffnung gab, so wollte Elfriede doch nichts unversucht lassen, nach ihrer Tochter zu suchen und Klarheit über ihr Schicksal zu erlangen.

Ilse hatte die sechste Klasse mit besten Noten abgeschlossen und einen Platz am renommierten Schulpforta Gymnasium in Naumburg erhalten. Der Schule angeschlossen war ein Internat und so kam Ilse nur noch in den Ferien, manchmal auch am Wochenende nach Golzen. Oft besuchte sie ihren Onkel Kurt in Naumburg und wurde immer häufiger zu Freunden nach Hause eingeladen.

Elfriede war in dieser Zeit  viel alleine.

Die zwei Fotoalben, die sie aus Stolp gerettet hatte, lagen oft auf dem Tisch, sie sah sich die Bilder ihres Mannes und ihrer Tochter an, die Fotos von Taufen und Einschulungen. All dies war verloren, die Menschen, das Land, ihr Haus.

Zwei Kriege hatte Elfriede erlebt und nun in der Sowjetzone sah sie, wie die Unfreiheit wieder am Erstarken war. Sie war müde davon, ein Opfer von Politik und Zwangsherrschaft zu sein.

Auch mit Ilse war es nicht einfach. Das Verhältnis von Mutter und  jüngerer Tochter war nie wirklich herzlich gewesen. Sehr unterschiedlich im Charakter – Elfriede akkurat, streng und fast pedantisch, Ilse voller Lebensfreude und Tatendrang – waren sie keine gute Ergänzung. Mit Vally verband Ilse eine viel tiefere Zuneigung als mit der eigenen Mutter.

Und doch hatte die Flucht Ilse ihrer Mutter näher gebracht. Sie war diejenige gewesen, die mit Disziplin den kleinen Trupp zusammengehalten hatte. Wenn Vally und Ilse morgens murrten, nicht aufstehen wollten, über Hunger klagten oder einfach nicht mehr weiter wollten, hatte sie die beiden motiviert. Sie stimmte ein Lied an oder erzählte eine kleine Geschichte aus Pommern. Sie selbst hatte nie geklagt. In den schlimmsten Hungertagen hatte sie ihrer Tochter fast ihre ganze Ration überlassen und wenn die anderen zu erschöpft waren, zog sie den Handwagen.

Ilse hatte all dies wohl bemerkt, und ohne es auszusprechen, die Stärken ihrer Mutter intuitiv, wie Kinder das oft tun, erkannt. Auch ihre Leistungen als Lehrerin waren Ilse nicht entgangen. Sie respektierte ihre Mutter dafür.

Doch das Jahr im kleinen Golzen, mit der Mutter in einem Zimmer, hatte die Gegensätze wieder aufleben lassen. Als das Schuljahr 1946 begann und Ilse nach Naumburg abfuhr, waren beide ein bisschen erleichtert über die Trennung.

Die altehrwürdige Klosterschule nahm erst nach dem Krieg auch Mädchen auf, und Ilse richtete sich mit ein paar anderen Schülerinnen in dem großen Schlafsaal ein. Aufgeregt und begeistert  war sie über die neue Freiheit.

Während der Nazizeit war Schulpforta eine Napola gewesen. Nun wollte man an die Tradition des althumanistischen Gymnasiums wieder anknüpfen. Neben Latein und Griechisch wurde viel Wert auf die klassische deutsche Literatur gelegt. Ilse füllte ihre Hefte mit Goethe- und Schillerzitaten. Marquis von Posas „Geben Sie Gedankenfreiheit Sire“, war ein vielzitiertes Wort in den Gesprächen mit Mitschülern.

Doch schon ab 1947 musste sich die Schule der neuen Ideologie anpassen. Russisch wurde als Pflichtfach eingeführt, Marx und Engels Schriften im Unterricht gelesen und die Sowjetzone als der bessere Teil Deutschlands dargestellt.

Eine Schulreise ins Konzentrationslager Buchenwald wurde für Ilse zu einem einschneidenden Erlebnis. Die Grauen und Verbrechen, die ihr hier vor Augen geführt wurden, waren sie nicht mit ein Grund dafür, dass sie, Ilse, ihre Heimat verloren hatte? Trugen die Deutschen nicht selbst eine ungeheure Schuld an dem, was sie jetzt erlebten?

Ilse begann ihre Umgebung und das politische Geschehen in der Sowjetzone mit offenen Augen zu sehen. Mit der Gründung der DDR 1949 kam bald auch die FDJ nach Schulpforta. All die Slogans vom Arbeiter- und Bauernstaat, Antifaschismus und Freiheit im Sozialismus, Ilse stand ihnen ablehnend und kritisch gegenüber. Freiheit, bedeutete das nicht, dass man seine Meinung offen sagen durfte?

Marschierte die FDJ auf dem Schulhof auf und warb eindringlich in den oberen Klassen zum Beitritt, daran wollte Ilse nicht beteiligt sein. Vieles erinnerte sie an die Zeit vor 1945, an die  Hitlerjugend in Stolp, das Fahnenschwenken und besinnungslose Mitmachen.  Vor jeder Form von Aufmarsch und Uniform sollte sie Zeit ihres Lebens einen Gräuel haben.

Statt sich im sozialistischen Staat zu engagieren, pflegte Ilse einen privaten Freundeskreis, der sich immer öfter am Nachmittag traf. Sie diskutierten über Politik und die Hitlerjahre, gingen in die Tanzstunde, hörten Frank Sinatra und Bing Crosby, Johannes Heesters und Grete Weisers Hit „Denn in der Nacht, da fallen alle Konsequenzen“. Ein Lied, das Ilse wohl bald recht wörtlich nahm.

Durch ihren Bruder Kurt hörte Elfriede bald, dass ihre Tochter ein ziemlich wildes Leben in Naumburg führte. Inzwischen war Ilse 17 und damit im gleichen Alter, wie Marianne es 1945 gewesen war. Als Ilse in den Sommerferien nach Golzen kam, gab es zwischen den beiden heftigen Streit.

„Du wirst die Schule nicht schaffen, wenn du so ein Lotterleben führst! Was hätte dein Vater dazu gesagt? Du sollst mir gehorchen, ich bin deine Mutter.“

Elfriede versuchte streng durchzugreifen. Innerlich verglich sie die jüngere Tochter mit Marianne, die doch viel sanfter und gefügiger gewesen war.

Als Ilse auf die Reglementierungen ihrer Mutter mit Gelassenheit reagierte, brach es schlieβlich  aus ihr heraus:

„Es wäre besser gewesen, wenn die Russen dich und nicht Marianne mitgenommen hätten!“

Wieder am falschen Ort

Ilse war nach dem Ausbruch ihrer Mutter wortlos abgereist und hatte die Ferien bei einer Freundin verbracht. Im letzten Schuljahr fuhr sie nur selten nach Golzen und lernte stattdessen unermüdlich für die anstehenden Abiturprüfungen.

Ilse wollte Medizin studieren. Schon seit Beginn des Gymnasiums war sie zu dieser Einsicht gekommen und ihre Noten in den naturwissenschaftlichen Fächern bewiesen, dass dies kein unrealistischer Wunschtraum war.

Im Sommer 1951 schloss Ilse die Schule mit einem überdurchschnittlich guten Zeugnis ab, das ihr, so hoffte sie, den Zugang zum Medizinstudium ermöglichen würde.

Die Bewerbungsunterlagen sorgfältig ausgefüllt, ging es aber erstmal zum Ernteeinsatz aufs Land. Wie in der DDR üblich, sollte die Jugend ihr Engagement für den jungen sozialistischen Staat durch Arbeit beweisen und so helfen, den überall spürbaren Mangel an Arbeitskräften zu mindern.

Ilse erhoffte sich wohl auch einige gute Punkte für ihre Kaderakte, und da ihr praktische Arbeit lag, ging sie mit Begeisterung an die Arbeit.

Viele Abiturienten waren auf dem Bauernhof, Ställe mussten ausgemistet, Erdbeeren gepflückt, Kartoffeln ausgegraben werden.

Fast zwei Monate arbeitete Ilse für freie Kost, verbrachte Zeit mit der Bauernfamilie und lernte viel über das Schicksal und Leben anderer Menschen. Fast alle, die sie hier traf, hatten im Krieg Familie verloren. Väter und Brüder  gefallen, Mütter und Schwestern missbraucht, Opfer der alliierten Bombenangriffe, endloses Leid. Wenn sie abends zusammensaβen, erzählten die Jüngeren einander ihre Geschichten. Sie war nicht die Einzige, der Schreckliches widerfahren war.

Körperlich kräftiger geworden, nachdenklich und doch voller Zukunftspläne, kam Ilse im Herbst nach Golzen und erwartete den Bescheid zum Studium.

Doch die Studienplatzvergabe in der DDR richtete sich nicht ausschlieβlich nach den Abiturnoten der Bewerber. Ein fester Klassenstandpunkt, Mitgliedschaft in der FDJ und die soziale Herkunft spielten eine maβgebliche Rolle bei der Auswahl.

Nun waren Ilses Eltern beide Akademiker, der Vater war Ingenieur gewesen, die Mutter Lehrerin. Űber ihre Haltung zum Arbeiter- und Bauernstaat war man sich nach Lektüre ihres  Aufsatzes zur Bedeutung der Arbeiterklasse nicht recht klar geworden. Auf Nachfrage bei Schulpforta wurde die Auskunft erteilt, dass Ilse dem neuen Staat kritisch gegenüberstehe. Nun, bei gleichen Noten wurden die Bewerber mit proletarischem Hintergrund vorgezogen.

 Und so brachte die Post einen Ablehnungsbescheid nach Golzen. Er lag bei den Radestocks auf dem Küchentisch, mit einem offiziellen Stempel und vielen Briefmarken. Ilse hatte schon vor dem Őffnen ein schlechtes Gefühl. Und es dauerte eine Weile bis sie den Inhalt wirklich erfasste.

Ja, da war es wieder. Aus ihrer Heimat waren sie von den Russen vertrieben worden. In der DDR wurde sie als Akademikerkind benachteiligt. Warum war sie nicht in Bayern oder Westfalen geboren worden? Wie anders würde ihr Leben dann verlaufen? Das zweite Mal, nur 19 Jahre alt, fühlte Ilse, dass sie am falschen Ort war und  ihr keine Wahl offenstand. Sie hatte nicht nur ihr Zuhause und Teil ihrer Familie verloren. Sie war eine Vertriebene, ein Mensch, der seine Wurzeln verloren hatte und keine neuen schlagen konnte.

Sieben Jahre Ungewissheit

Jedes Jahr am 3. April stellte meine Groβmutter einen kleinen Blumenstrauβ vor das gerahmte Photo ihrer Tochter Marianne und zündete daneben eine Kerze an. Sieben Jahre waren inzwischen vergangen und Elfriede hatte sich an das Leben in der Fremde gewöhnt.

Sicherlich – Thüringen war anders als Pommern. Die Ostsee fehlte ihr, das Zimmer bei den Bauern war nicht zu vergleichen mit dem Haus, das sie in Stolp bewohnt hatte. Und trotzdem war es ein relativ friedliches Leben, das sie nun führte. Sie unterrichtete ihre kleine Kinderschar, war im Dorf angesehen und hatte Freunde gefunden. Mit Vally stand sie im wöchentlichen Briefkontakt und ihre Geschwister luden sie in den Ferien nach Naumburg und Berlin ein.

Wäre nicht der ewige Streit mit Ilse und die Ungewissheit über den Verbleib Mariannes gewesen, hätte Elfriede nachts ganz gut schlafen können.

Doch in diesem Jahr, 1952, sollte sich das ändern.

Millionen von Menschen hatten sich am Ende des Krieges an das Rote Kreuz gewandt und um Hilfe bei der Suche nach ihren Angehörigen gebeten. Mit unglaublicher Gründlichkeit nahmen die Helfer alle verfügbaren Daten und Kennzeichen der Vermissten auf. Die erstellten Karteien enthielten Fotos, eine Merkmalkarte, Vermerke zu Wohnorten, Fluchtwegen, Bekannten, Schulbesuchen und mehr.

1952 stieß das Rote Kreuz durch Zeugenaussagen von Heimgekehrten auf Marianne. Deutsche Frauen hatten in Russischen Lagern Listen mit Namen von Gestorbenen erstellt und nach Deutschland mitgebracht. Auch wenn nichts Genaues über Mariannes Schicksal bekannt wurde, so galt es nun als sicher, dass sie in einem Arbeitslager in Russland gestorben war.

Elfriede bekam Post vom Roten Kreuz. Wieder lag so ein Brief mit amtlichen Stempeln auf dem Tisch in der Küche, der nichts Gutes verhieβ.

Neben einer kurzen Schilderung der Zeugenaussagen erhielt er eine offizielle Sterbeurkunde, die Folgendes besagte:
‚Die Marianne Hildegard Eggert, wohnhaft in Stolp/Pommern, Schillerstrasse 10, ist im Juli oder August 1945 bei Tscheljabinsk/ Ural im Lager verstorben. Genaue Zeit und genauer Ort des Todes unbekannt. Die Verstorbene war nicht verheiratet.‘

Hier war die Gewissheit, nach der Elfriede so lange verlangt und die sie gleichzeitig gefürchtet hatte. Ihre Tochter hatte drei oder vier Monate Schreckliches erleben müssen, dann war sie durch den Tod entkommen. Auch wenn der Schmerz allumfassend war, der Brief des Roten Kreuzes ermöglichte es Elfriede doch, einen Teil ihres Lebens abzuschlieβen. Ihre Tochter würde fortan in ihren Erinnerungen weiterleben und die Kerze, die  nun oft vor dem Foto Mariannes brannte,  war Zeugnis davon.

An der Saale hellem Strande

Elfriede hatte den Brief des Roten Kreuz auf dem Küchentisch liegengelassen, so dass ihre Tochter ihn finden würde, wenn sie spät abends nach Hause kam. Seit der Absage für das Medizinstudium arbeitete Ilse mal als Kellnerin, im Krankenhaus als Putzkraft oder half bei ihrem Onkel Kurt in der Arztpraxis aus.

Sie war müde, als sie an diesem Abend endlich in Golzen ankam, und den Brief sah sie erst, als sie schon auf dem Weg ins Bett war. Anders als  Elfriede war sich das Kind Ilse seit jener Stunde an der Straβensperre in Stolp sicher gewesen, dass ihre Schwester sterben würde. Deshalb berührte sie die Bestätigung von Mariannes Tod – schwarz auf weiβ – erst einmal nicht besonders.

Erst später wird sich das Lager im Ural, das sie nie gesehen und von dem sie auch keine Vorstellung hatte, in ihre Gedanken und Träume einschleichen. Es wird zu ihrem Begleiter, fast wie ein körperliches Gebrechen, das sie auch in den fröhlichsten Stunden, mit Freunden, nie ganz abschütteln kann. Trotz der Lebensfreude, die sie immer ausstrahlte, machte sie diese unsichtbare Last zu einem ernsten Menschen. Gegenüber ihrer Mutter erwähnte sie den Brief mit keinem Wort.

Mit ihrem Onkel dagegen besprach Ilse bald  die Möglichkeiten einer Berufsausbildung, die zumindest im medizinischen Feld lag. Denn als Aushilfskraft wollte sie nicht weiter arbeiten. Kurt empfahl die Medizinisch Technische Assistentin. An der Fachschule für MTAs in Halle an der Saale konnte man sich zweimal jährlich bewerben. Ohne großen Enthusiasmus schickte Ilse ihre Bewerbung ab. Wenige Wochen später erhielt sie die Zusage zum 1. Februar 1953. Wieder stand ein Umzug bevor.

Halle an der Saale war die einzige Groβstadt in Deutschland, die bei Kriegsende relativ unzerstört geblieben war. Sie hatte sich im April 1945 kampflos den Amerikanern ergeben und die ‚Feigheit vor dem Feind‘ sollte ihren Bewohnern sehr zugute kommen.

Halle war in den 50er Jahren ein Kulturzentrum mit Museen, Varieté, Oper und Theater. In der Innenstadt waren viele geschichtsträchtige Gebäude erhalten geblieben und Ilse fand ein kleines Zimmer zur Miete, das auf die mittelalterliche Stadtmauer blickte und das sie mit einer MTA Schülerin teilte.

Gemeinsam gingen die beiden nun zur Schule und verbrachten die Stunden zuhause meist im Bett. Da es so gut wie kein Heizmaterial gab, mussten sie mit Handschuhen und Mützen bekleidet für ihre Ausbildung lernen. Der Winter war so kalt, dass sich Eis an den Wänden bildete.

Als der Frühling Einzug in Halle hielt, gingen sie auf lange Entdeckungsreisen in die Umgebung und verbrachten die Abende im Theater oder in Kneipen, wo die politische Lage im Land diskutiert wurde.

Die DDR war in einer politisch und wirtschaftlich prekären Situation, die ihre Wurzeln in der sowjetischen Besatzung hatte. Nicht nur war die Versorgungslage mit Nahrungsmitteln und Konsumgütern äuβerst dürftig, politisch sah es fast noch schlechter aus. Alle Parteien waren zu einer Blockpartei zusammengeschlossen, eine freie Presse existierte nicht und infolgedessen verließen mehr und mehr, vor allem junge Menschen, das Land. ‚Abstimmung mit den Füβen‘ wurde das im Volksmund genannt.

Als die Regierung den Kurs eines verschärften Sozialismus verkündete, der unter anderem höhere Abgaben für die Bauern und Normerhöhungen in der Industrie und im Baugewerbe vorsah, kam es zu Unruhen.

Die Sowjetunion aber war nach Stalins Tod und einem Machtwechsel zu Chrustschow mit innenpolitischen Umstrukturierungen beschäftigt und nicht an einem Anziehen der politischen Daumenschrauben in der DDR interessiert.

So wurden einige der verkündeten Maβnahmen von der Regierung Ulbricht am 9. Juni wieder zurückgenommen, die Normerhöhungen für Bauarbeiter wurden jedoch beibehalten.

Doch wie so oft in der Geschichte breiten sich Aufstände meist dann aus, wenn die Menschen eine Schwäche des Regimes wittern.

Im ganzen Land kam es zu Unruhen und Demonstrationen, an denen sich Arbeiter, aber auch Bauern und Mittelschichtler beteiligten. Mit dem Ruf nach freien Wahlen gingen am 17. Juni 60 000 Menschen in Halle auf die Straβe.

Die jungen MTA Schülerinnen sahen am Morgen die ersten Demonstranten an der Schule vorbeiziehen. Um 11 Uhr verkündete ihr Lehrer, plötzlich ohne Parteiabzeichen am Revers,  dass der Unterricht aufgrund der unsicheren Situation geschlossen würde. Nun machte sich ein Trupp von jungen Frauen, auch Ilse, auf den Weg in  Richtung Hallmarkt.

Bei vielen Teilnehmern mag am Anfang Neugierde und Sensationslust dabei gewesen sein. Aber diese Demonstration entwickelte sich bald zu einem massiven Umsturzversuch. Nicht nur drangen die Demonstranten in das Gefängnis ein und befreiten politische Gefangene, sie besetzten auch den Rat des Bezirkes und forderten den Rücktritt der Regierung.

Ilse fand sich auf einmal mitten in einer Gruppe von jungen Revolutionären, die ihre Wut und Frustration mit der politischen Situation herausschrieen. Angst hatte sie nicht, nein, das hier war richtig, sie wollte nicht in einem Land leben, wo man seine Meinung dreimal überdachte, bevor man etwas sagte. Frei wollte sie leben und das auch sagen dürfen!

Bis zum Nachmittag wogte der Demonstrationszug durch Halle, dann begannen Volksarmee und Polizei die Straβen abzuriegeln. Bald schon rückten sowjetische Panzer an, es wurde geschossen und verhaftet. Später verhängte die Regierung den Ausnahmezustand und eine nächtliche Ausgangssperre.

Ilse entkam durch Seitenstraβen, und als sie die Tür ihres Zimmers von innen zuschlug, entlud sich die Angst und Ohnmacht in Tränen. Ein kleines Hoffnungslicht war verloschen, es würde hier nicht besser, sondern schlimmer werden.

Die Pressemitteilungen der kommenden Tage gaben Ilse Recht. Tausende waren im Land verhaftet worden, den Aufstand stellte man als einen Putschversuch des Westens dar. Die Stasi wurde in den kommenden Jahren zu einem mächtigen Űberwachungsapparat.

Ilse beschlieβt in diesen Wochen, die dem 17. Juni folgen, dass sie in diesem Land nicht bleiben wird. Mehr als der Verzicht auf schöne Kleidung und gutes Essen ist ihr die geistige Enge und Beschränkung der DDR ein Maulkorb, den sie nicht zu tragen bereit ist.

Nochmal auf der Flucht

Es war das Jahr 1956.

Ilse hatte nach dem Ausbildungsjahr in Halle ein Praktikum in Thale im Harz absolviert. Danach zog sie nach Ostberlin. An der Charité folgte das dritte Jahr. Sie wurde dort als fertig ausgebildete  MTA übernommen.

Ilse war 23, und in Berlin, ob Ost oder West, pulsierte das Leben. Űberall wurde gebaut, Ruinen wurden abgerissen, im Westen schillerten die Leuchtreklamen von Leiser, dem Kaufhaus des Westens und dem Café Kranzler.

In Ostberlin wurden die monumentalen Häuser an der Stalinallee gebaut und was an Konsumgütern nicht vorhanden war, glich ein breites Kultur- und Theaterleben aus. Ilse genoss die Aufführungen am Schiffbauerdammtheater und Besuche im wiedereröffneten Pergamonmuseum.

Und doch, die politische Eingeschränktheit war überall zu spüren. Die Unterhaltungen mit Kollegen waren immer von einer Vorsicht begleitet, man wusste nie, wer vielleicht Bemerkungen weitergab, die nicht konform waren. Nur im engsten Freundeskreis sprach Ilse offen.

Nach Golzen fuhr sie in diesem Jahr nur selten, aber dafür häufig nach Westberlin. Sowohl Tante Charlotte als auch Elfriedes Bruder Kurt waren in den Westen übergesiedelt. Mit Hilfe des Lastenausgleichs, den die Bundesregierung Vertriebenen zahlte, hatte Kurt bereits eine neue Praxis in Zehlendorf eröffnet.

Wie anders war das Leben hier. Wie viel freier fühlte sie sich, wenn die S-Bahn den Ostteil verlassen hatte und durch die westlichen Bezirke gen Süden zuckelte. Ilse saβ am Fenster und schaute auf eine aufblühende Stadt, sie betrachtete die Menschen im Zug und sah weniger graue, sorgenvolle, ja ängstliche Mienen. Die Gespräche bei ihrem Onkel Kurt drehten sich viel um Politik und immer wieder um die Frage, ob Ilse nicht auch in den Westen kommen sollte.

Im Herbst nahm Ilse Urlaub und besuchte ihre Mutter in Golzen.

„Wollen wir nicht zusammen in den Westen gehen? Du könntest bei Kurt und seiner Frau wohnen und Arbeit suchen. Lehrer werden in Westberlin doch auch gebraucht.“

Elfriede schüttelte bestimmt den Kopf.

„Ich habe einmal alles verloren und hinter mir lassen müssen. Das kann ich nicht noch einmal machen. Im Januar werde ich 60. Ich bin zu alt für einen Neuanfang. Geh du, Ilse. Ich besuche dich, aber meine letzten Jahre als Lehrerin werde ich hier verbringen.“

Ilse verstand ihre Mutter gut, ja, Golzen war eine friedliche Enklave mit einer Gemeinschaft, auf die Elfriede nicht verzichten wollte.

So beschloss sie, alleine in den Westen zu ziehen. Doch völlig unvorbereitet konnte das nicht geschehen. Ilse packte erstmal ihre Zeugnisse in eine Plastikfolie, steckte sie vorne ins Kleid und schmuggelte sie zu Kurt nach Hause. Bewerbungen mussten geschrieben werden.

Die S-Bahnzüge, die von Ost- nach Westberlin fuhren, wurden immer häufiger kontrolliert und wenn man mit Koffern oder Dokumenten geschnappt wurde, die auf einen geplanten Umzug hindeuteten, wurde man zur Befragung mitgenommen. Stellte sich der Verdacht als begründet heraus, hatte das eine Gefängnisstrafe wegen geplanter Republikflucht zur Folge.

So packte Ilse sehr vorsichtig bei jedem Westberlinbesuch ein paar Dinge ihres bescheidenen Besitzes ein. Meist zog sie ein paar Schichten Kleidung übereinander, um sie dann bei Kurt zu lassen. Bücher wurden nur ganz wenige ausgewählt und in der Handtasche mitgenommen. Aber es wurden schon an die zehn Besuche, bis Ilse ihre Habe allmählich im Westen abgeliefert hatte.

Von den Freunden in Ostberlin und in der Charité verabschiedete sich Ilse auf eine ganz besondere Weise. Nur eine wirklich gute Freundin wusste, dass Ilse eine Stelle im Johannesstift in Westberlin gefunden hatte und dort ab dem 1. Dezember 1957 die Arbeit aufnehmen wollte. Ohne jeden Abschied aber wollte sie nicht gehen. So lud sie zu ihrem Geburtstag am 27. November alle Bekannten, viele Arbeitskollegen und die wenigen wirklichen Freunde in das Restaurant Lukullus ein. Ihr letztes Gehalt reichte gerade, um die Rechnung zu begleichen. Es war ein Abend voller fröhlicher Unterhaltungen, und doch fühlte Ilse auch eine groβe Trauer. Wieder musste sie fortgehen. Wieder ein Neuanfang. Würde sie sich im Westen einleben und neue Freunde finden?

Am 29. November 1958 zog Ilse die Haustür der Wohnung zu, in der sie zur Untermiete gewohnt hatte.

Den Schlüssel legte sie auf die Kommode im Flur, ohne Erklärung, die wollte sie später aus Westberlin per Post schicken. Es war ein grauer, nebliger Tag, ein Samstag, und morgens waren nicht viele Menschen auf der Straβe. In der Handtasche hatte Ilse nur die letzten Dinge, ein bisschen Schmuck, ihr Lieblingsbuch, Schiller: ‚Don Carlos’ und einige Briefe, von denen sie sich nicht trennen wollte. Sie ging zum S-Bahnhof Alexanderplatz und zog eine Fahrkarte. Auf dem Bahnsteig standen einige Wartende, fröstelnd die Hände in den Manteltaschen versteckt. Graue Gesichter, ein paar mit Zeitung in der Hand, die sie leeren Blickes durchblätterten.

Ilses Herz klopfte. Hoffentlich sah man ihr die Aufregung nicht an. So oft war sie nach Westberlin gefahren, und doch war es heute anders. Das letzte Mal.

Als der Zug einfuhr, atmete sie erleichtert auf. Sie suchte einen leeren Fensterplatz und lieβ den Blick über die Häuser und Straβen gleiten. Marx-Engels-Platz, wenige Passagiere stiegen zu. Friedrichstraβe, jetzt musste sie umsteigen.

Auf dem unteren Bahnsteig in Richtung Zehlendorf standen Volkspolizisten. Ilse hielt den Atem an. Was sollte sie tun? Umdrehen und wieder zurückfahren? Sie entschied sich erst einmal, den Bahnhof zu verlassen.

Drauβen auf der Friedrichstraβe kaufte sie einen Tee und wärmte ihre Hände an dem Pappbecher. Ihr Herz klopfte noch immer wie wahnsinnig. Sie wartete eine halbe Stunde, dann betrat sie den Bahnhof wieder, zog zur Sicherheit eine neue Fahrkarte und stieg die Treppe zum unteren Bahnhof hinab.

Erleichtert atmete sie auf. Keine Polizei, nur wenige Fahrgäste. Der Zug fuhr schon ein und Ilse bestieg den vordersten Wagon. Noch zwei Stationen im Osten, dann würde sie drüben sein. Unter den Linden, alles blieb ruhig. Als der Zug am Potsdamer Platz einfuhr, sah sie die Volkspolizei. Űber den gesamten Bahnsteig verteilt standen sie da, ja es wimmelte von  grauen Uniformen.

Ilses Herz blieb fast stehen. Jetzt gab es kein Umdrehen mehr, hier musste sie durch. Vier Vopos bestiegen ihren Wagon und begannen, die Reihen auf und ab zu stolzieren. Ilse sah scheinbar unbeteiligt aus dem Fenster. Wie eine kalte Hand hatte sich die Angst um ihr Herz gelegt.

Da war sie wieder. Die Straβensperre an der Chausee von Stolpmünde. Das Näherrücken, langsam, bis zu dem unerbittlichen Moment, als sie vor dem russischen Soldaten standen. Klar wie auf einem Foto sah sie alles vor sich. Noch einmal gefasst werden? Diesmal sie?

Hinter ihr hörte sie jetzt laute Stimmen. Ilse drehte sich um. Ein älterer Mann wurde nach seinem Reiseziel befragt. In seiner offenen Reisetasche wühlten die Vopos zwischen Kleidung. Genaues konnte sie nicht sehen. Jetzt hatten sich alle vier Vopos um den Mann versammelt.

Der Zug wurde langsamer und fuhr in den Anhalter Bahnhof ein. Ohne sich noch einmal umzusehen, nahm Ilse die Handtasche. Sie öffnete die Tür. Fast schwankend vor Anspannung setzte sie den Fuβ auf den Bahnsteig.  Sie war in Westberlin.

Mit schnellen Schritten lief sie zur Treppe. Als sie die oberen Stufen erreichte, sah sie die Sonne durch die Wolken kommen.

 Teil 3: Tränen, nie vergossen

Im Sommer 1975 war ich 14 Jahre alt. Ilse hatte bald nach ihrer Übersiedlung in den Westteil Berlins geheiratet und zwei Kinder bekommen. Nachdem mein Vater sein Geschäft durch einen Brand verloren hatte, arbeitete sie wieder halbtags. Elfriede, meine Groβmutter, war nach ihrer Pensionierung 1963 ebenfalls in den Westen übergesiedelt, um in der Nähe ihrer Tochter und Enkelkinder zu sein.

Wir lebten in einem kleinen Haus in Zehlendorf, ein recht unspektakuläres Leben, finanziell nicht gut situiert, aber doch genug, um ein normales Leben zu bestreiten.

Seit meinem 12. Lebensjahr war ich eine begeisterte Ruderin und verbrachte die meisten Nachmittage in der Woche auf dem Wannsee und den Kanälen.

Meine Mutter Ilse war im Frühling 1975 ebenfalls dem Klub beigetreten und ruderte nun im Altdamenvierer jeden Sonntag mal Richtung Pfaueninsel, mal zum Griebnitzsee.

Die Besatzung des Vierers bestand bald aus den immer gleichen Frauen unterschiedlichen Alters und während der Ruhepausen kamen sie ins Gespräch. Gleich hinter Ilse saβ Helga, etwas älter als meine Mutter, Ende 40. Helga war eine stille Frau, deren Augen man durch die dicken Brillengläser kaum sehen konnte. Sie wirkte freundlich und doch sehr verschlossen. So dauerte es lange, bis sie sich an den Gesprächen beteiligte.

Eines Sonntags erzählte Ilse von Pommern, von Stolp, der Flucht und auch, dass ihre Schwester von der Roten Armee verschleppt und im Lager gestorben war. Die Ruderinnen waren am Ende sehr still, erschüttert von dem, was sie da gehört hatten.  Nur Helgas leise Stimme war plötzlich zu hören:

„Wie hieβ deine Schwester? Weiβt du, in welches Lager sie gebracht wurde?“

Es mag wie eine Erfindung klingen und doch ist es wirklich passiert. Helga war mit Marianne Eggert im selben Arbeitslager im Ural gewesen.

Meine Mutter konnte es kaum fassen. Nur mit Mühe beendeten die Vier ihre Ruderpartie und Helga und Ilse saβen danach viele Stunden im Klubhaus.

Helga kam aus Ostpreußen und hatte sich mit ihrer Familie noch vor dem russischen Einmarsch auf die Flucht begeben. Als sie von der Roten Armee überrollt wurden, hatte man sie verhaftet und zusammen mit unzähligen anderen Mädchen und jungen Frauen in den Ural gebracht.

Als Marianne dort ankam, hatte Helga schon Wochen voller Entbehrungen und Grausamkeiten hinter sich. Von schwerster Arbeit, geringsten Essensrationen, Vergewaltigungen, Ungeziefer, Kälte und  Erniedrigung erzählte sie. Von Zuhause christlich erzogen, wurde der Glaube für Helga der Pfeiler ihres Űberlebenswillens. Er lieβ sie auch die Geburt eines Kindes überstehen, das von den Aufsehern an die Wand geworfen wurde, bis es tot war.

Marianne aber war noch jünger, ohne starken Willen, sie verfügte nicht über einen derartigen Halt. Nach wenigen Wochen war sie gebrochen, krank, und verweigerte seit Ende Juni jede Nahrungsaufnahme. Ihr Tod war eine Erlösung, die sie gewollt herbeiführte.

Wenige Frauen hatten wie Helga die geistige Stärke das Leben im russischen Lager zu überstehen. Von den 1944/45 ca. 500 000 verschleppten Deutschen, die als lebende Reparationen Zwangsarbeit in sowjetischen Lagern leisten mussten, sind nur ca. 16 %  zurückgekommen, die Letzten 1955, zehn Jahre nach dem Ende des Krieges.

Die Erlebnisse im Krieg werden oft als ein kollektives Trauma beschrieben. Trauma wird erklärt als eine überwältigende und lebensbedrohliche Erfahrung, die auβerhalb unseres normalen Erfahrungsbereiches liegt und oft mit dem Gefühl des Ausgeliefertseins einhergeht.

Unsere normale Stressverarbeitung kann mit einem solchen Erlebnis nicht umgehen und die seelischen Schmerzen, die es verursacht, werden vom Gehirn abgespalten. Die Erinnerung an das Trauma ist deshalb oft nur noch teilweise zugänglich oder kann sogar völlig verdrängt werden.

Das Wiederbeleben des Traumas, etwa durch eine erneute Fluchtsituation oder das Treffen Ilses mit Helga, führt zu einem Flashback, dem erneuten Durchleben des Traumas.

Die psychischen Folgen können vielseitig sein. Schuldgefühle, überlebt zu haben, Unfähigkeit, Gefühle für andere zu empfinden sind mögliche Konsequenzen eines nicht verarbeiteten Traumas.

Heute, im Jahr 2020, steht uns eine Vielfalt psychologischer Hilfen zur Verfügung. Mentale Gesundheit wird als ein integraler Bestandteil menschlichen Wohlbefindens angesehen und für nicht weniger wichtig als körperliche Gesundheit befunden.

Ehepaare besuchen eine Paartherapie, wenn sie Probleme haben, Jugendliche mit Essstörungen treffen wöchentlich ihren Psychologen. Mein jüngster Sohn, der adoptiert ist, hat bereits mit acht Jahren eine Kinderpsychologin aufgesucht, die ihm half, den Schmerz des Nichtgewolltseins zu bearbeiten.

Selbst in Südafrika, wo ich lebe, werden Psychologen in Schulen geschickt, die Űberfällen oder anderen Arten von Gewaltübergriffen ausgesetzt waren. Sie bieten den Kindern Traumaberatung an. Es gibt ein Krisenzentrum für Vergewaltigungsopfer und die Berufsorientierung wird mit Hilfe eines Schulpsychologen diskutiert.

Psychologie ist ein fester Bestandteil unseres Lebens geworden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg aber war das ganz anders. Psychologischer Beistand existierte kaum, die geistige Gesundheit bestritt eine Randexistenz, und noch in den 70er Jahren galt es bei Vielen als ungewöhnlich, zum Psychologen zu gehen.

Und doch gab es Millionen von Menschen, die aufgrund der erlebten Traumata dringend psychologische Hilfe gebraucht hätten.

Manche versuchten sich selbst zu helfen.

Frauen, mehr als Männer, sprachen mit anderen Betroffenen über die Vergangenheit, so wie man sich heute in einer Selbsthilfegruppe trifft und gleichgeartete Probleme austauscht. Das hat einen tröstenden, nicht aber einen heilenden Effekt.

Viele Menschen aber, vor allem Männer, die im Krieg gewesen waren, haben die schrecklichen Erlebnisse verdrängt und sie wie einen Fremdkörper in sich eingeschlossen.

Als meine Mutter Ilse von dem Treffen mit Helga nach Hause kam, ging eine bemerkenswerte Veränderung mit ihr vor sich.

Schon als wir noch klein gewesen waren, hatten wir von Stolp in Pommern gehört. Jetzt aber sprudelten die Erlebnisse und Begebenheiten aus meiner Mutter heraus, wie aus einer Quelle, die nach langer Dürre endlich wieder Wasser führt. Helgas Berichte hatten wie ein Trigger auf sie gewirkt, die Erinnerungen drängten an die Oberfläche.

Fast alles, was ich über das Leben von Ilse weiβ, hat sie in jenen Monaten im Herbst 1975 erzählt. Sie holte nicht nur die Fotoalben von ihrer Mutter, um ihre Berichte zu illustrieren, sie sang das Pommernlied, russische Lieder aus der Schulzeit und kochte pommersche Gerichte. Schließlich fuhr sie mit uns im Sommer 1976 nach Polen, damit wir ihre alte Heimat kennenlernten.

Um diesen Besuch vorzubereiten, belegte sie bei der Volkshochschule einen Polnischkurs und übte beim Mittagessen polnische Vokabeln.

Es war so etwas wie eine Selbsttherapie, was sie da betrieb. Für mich als Kind war es eine Űberwältigung, ja es hatte fast auch eine traumatische Komponente.

Solange wir Kinder sind und oft solange unsere Eltern leben, sehen wir die Menschen, die uns in die Welt gesetzt haben, meist nur in ihrer Rolle als unsere Eltern. Wir wollen geliebt werden, versorgt sein, sie sollen uns gerecht behandeln. Ansonsten aber wollen wir bitte mit den Problemen, die der Mensch Mutter oder Vater hat,  in Ruhe gelassen werden.

So habe ich auf den Einsturm dieser Erinnerungen meiner Mutter damit reagiert, sie zwar abzuspeichern, mich aber in den kommenden 15 Jahren kaum an sie zu erinnern.

1985 starb Ilse mit 51 Jahren an Krebs. In ihren letzten Stunden im Krankenhaus zerkratzte sie ihr Gesicht und raufte sich die Haare. Es wirkte, als wenn sie all ihre Traumata noch einmal durchlebte. Vielleicht war es wirklich die Straβensperre, die Flucht, all das, was sie auf dem Weg hatte mit ansehen müssen, was in ihrem Inneren in Bildern und Gefühlen wieder hervorkam, bevor sie starb.

Viele Jahre sind seitdem vergangen und immer häufiger fielen mir Bruchstücke von den Erzählungen meiner Mutter wieder ein. Erst dann, als ich Ilse als Ilse sah, konnte ich mir klar machen, dass diese Frau ein tragisches, trauriges und kurzes Leben gelebt hat. 

Ich konnte sie schätzen lernen für ihre Haltung.

Pommern war nun Polen, Heimatvertriebenenverbände fand Ilse revisionistisch. Wenn man nach Polen reiste und dort freundlich aufgenommen werden wollte, dann sprach man dort nicht Deutsch, sondern radebrechte auf Polnisch. Das tat sie, um ihren guten Willen zu zeigen und um ein Versöhnungszeichen zu setzen.

Auch die Anerkennung deutscher Schuld ist ein wichtiger Teil meiner Erziehung gewesen.

Sie konnte mir leidtun, wegen ihrer emotionalen Probleme.

Manchmal schloss meine Mutter sich im Bad ein, um sich, wie sie laut verkündete, umzubringen.

Im Urlaub fuhren wir immer ans Meer, und Ilse schwamm oft so weit hinaus, dass Rettungsschwimmer sie einige Male mit einem Boot zurückholten. Fast so, als wollte sie nach Pommern, nach Hause, schwimmen.

Einmal sagte sie im Streit zu mir, dass man eben ein Kind mehr liebt als das andere. Damals hat mir das sehr wehgetan. Jetzt glaube ich, dass es von der Bemerkung ihrer eigenen Mutter herrührte, die Russen hätten doch lieber sie mitnehmen sollen. Eins von den vielen  Erlebnissen, die sie nicht hatte verarbeiten können.

Heute finde ich, dass es  wichtig für mich ist,  Kenntnis über das Leben meiner Mutter zu haben. Es hilft mir, meine eigene Kindheit besser zu verstehen. Ilses groβes Mitteilungsbedürfnis in Bezug auf die Vergangenheit hat mir dieses Wissen quasi in den Schoβ gelegt. Relativ wenige Menschen haben so offen mit ihren Kindern über ihre Kriegserlebnisse gesprochen.

Wenn man noch Eltern hat, kann man sie befragen. Wenn man ihr Schicksal kennt, lernt man sie von einem neuen Blickwinkel kennen. Dann kann man sie als Menschen sehen, die Schlimmes erlebt haben und vieles davon in sich selbst vergraben mussten. Das taten sie nicht aus bösem Willen, sondern aus Mangel an Hilfe und Unwissenheit darüber, wie man mit einem Trauma umgeht und davon genesen kann.

Wir als nachkommende Generation haben oft unter unseren Eltern gelitten.

Viele von uns haben ihre Eltern als wenig liebevoll erlebt. Sie haben uns zwar materiell versorgt, aber keine wirkliche Nähe mit uns aufgebaut. Der Mangel an Freizügigkeit, Verständnis, sexueller Aufklärung und emotionaler Zuwendung sind Probleme, die die Kindheit vieler Menschen meiner Generation geprägt haben.

Wenn ich über meine Jugend nachdenke und sie mit der meiner eigenen Kinder vergleiche, hat mir vor allem Offenheit in der Beziehung zu meinen Eltern gefehlt.

Vieles wurde vor uns Kindern verheimlicht. Materielle Probleme wurden uns nicht erklärt, wir zogen nur plötzlich in ein kleineres Haus.

Alles im Zusammenhang mit Sex war ein peinliches Tabu. Als ‚Aufklärung‘ legte man uns ein Buch auf den Nachtisch mit dem schönen Titel ‚Woher kommen die kleinen Buben und Mädchen‘.

Jedem Streit folgte ein strafendes Schweigen, das sich über mehrere Tage hinziehen konnte.

Viele Dinge, die wichtig für mich waren, habe ich im Gegenzug zu der Verschwiegenheit meiner Eltern auch  vor ihnen verheimlicht.

Es war ein distanziertes Verhältnis, von beiden Seiten von Unverständnis geprägt. Obwohl meine Mutter vom Krieg erzählte, konnte ich als Kind nicht verstehen, warum sie offenbar emotional geschädigt war.

Sie als Kriegsüberlebende konnte sich ebenso wenig in unsere Welt hineinversetzen. Unsere Sorgen konnte sie nicht als wirkliche Sorgen identifizieren.

Aus meiner heutigen Sicht ist das durchaus verständlich, weil ich sie jetzt vor dem Hintergrund ihrer Lebenserfahrung beurteile.

Wenn man kaum genug anzuziehen hatte, mag das Gequengel der 13-jährigen Tochter nach neuen Jeans  unwichtig erscheinen.

Wenn man gehungert hat, kann man seine eigenen Kinder unerträglich finden, wenn sie den Milchreis nicht essen wollen.

Wenn man Lebensangst ausgestanden hat, mag einem die Angst vor dem dunklen Schlafzimmer als irrelevant erscheinen.

Wenn man durch solche Traumata gegangen ist wie meine Mutter und so viele andere in ihrer Generation, hat man kaum das Rüstzeug, um verständnisvoll zu sein, auch deshalb nicht, weil man über keine innere Balance verfügt.

Diese Verständnislosigkeit muss nicht in dem platten Sinne – Ihr verwöhnten Wohlstandskinder, ihr hättet mal einen Krieg erleben müssen –  gemeint gewesen sein.

Meine Mutter hat ihren Kindern sicherlich nicht ein Kriegserlebnis gewünscht. Trotzdem mussten ihr unsere Probleme vor dem Hintergrund ihrer eigenen Kindheit oft belanglos erscheinen.

In vieler Hinsicht ist das natürlich immer ein Problem zwischen Eltern und Kindern, es ist das, was man als Generationenkonflikt bezeichnet.

Der Unterschied zum typischen Generationenkonflikt scheint mir darin zu bestehen, dass Lichtjahre zwischen dem Erlebten der Kriegsgeneration und unserer Welt lagen.

Ich habe ganz Ähnliches an mir selbst bemerkt. Seit 15 Jahren lebe ich in Südafrika, eine der sozial gegensätzlichsten Gesellschaften dieser Welt. Wenn ich nach Deutschland zu Besuch komme, verstehe ich Vieles nicht mehr. Meine Erfahrungswelt unterscheidet sich zu sehr von dem, was  in Deutschland vor sich geht. In vieler Hinsicht bin ich ein Auβenstehender. Manches, was in Deutschland als Problem gesehen wird, scheint mir irrelevant. Lebe ich doch in einer Welt, die mit existentiellen Missständen geradezu gepflastert ist.

Ansatzweise spiegelt das genau das Problem der Elternkriegsgeneration wieder, nur war der Unterschied im Erlebten um so vieles signifikanter.

Natürlich dürfen nicht alle Fehler und Missgriffe unserer Elterngeneration mit dem Kriegserlebnis gerechtfertigt und erklärt werden.

Die Erzählung vom Leben meiner Mutter soll nur ein Versuch sein, für mehr Verständnis zu werben. Wir sollten milde sein im Urteil über das Unvermögen unserer Eltern. Viele von ihnen  haben in der Tat Schreckliches erlebt.

Auch lohnt es sich, darüber nachzudenken, wie solche Erlebnisse uns wohl selber als Menschen  geprägt hätten.

Brecht appelliert an uns, wir sollten gedenken der Flut, in der seine Generation untergegangen ist und  der wir entronnen sind.

Ja, wir sollen von ihren Schwächen sprechen, wir sollen nicht vergessen.

Gedenken im Zusammenhang mit unseren Eltern kann bedeuten, sich zu erinnern, versuchen zu verstehen, nicht zu verurteilen.  Nachsichtig zu sein.

Erwarten wir das nicht genauso von unseren Kindern im Umgang mit unserer eigenen Unvollkommenheit?

Das kleine Gemälde vom Ostseestrand in Stolpmünde hing immer über dem Bett meiner Mutter. Heute hat es einen Platz über dem Schreibtisch meines Bruders.

Heute liegt der Strand in Polen und der Ort heiβt Ustka. Er lohnt eine Reise.

All diese Gefahren hatten Elfriede bewogen, in Stolp zu bleiben.

Seit dem Tod ihres Mannes 1943 war sie mit den beiden Töchtern alleine. Als Grundschullehrerin hatte sie ein leidliches Gehalt und manche Eltern ihrer Schüler schenkten ihr gelegentlich frisches Gemüse, ein Huhn, ein Stück Butter. Seit sie das obere Stockwerk des Hauses vermietete, kamen die drei ganz gut über die Runden und Elfriede fürchtete sich mehr vor den Ungewissheiten einer Flucht als vor der Roten Armee.

Ja, alle in Stolp hatten von Gräueltaten der Russen gehört, von Vergewaltigungen und Plünderungen. Die Nazipropaganda schürte die Angst vor den anrückenden slawischen Horden ständig und trotzdem – Elfriede wollte die Sicherheit ihres Zuhauses nicht aufgeben. Bestimmt  war ja  nicht alles wahr, was erzählt wurde? Die Russen liebten doch Kinder, Ilse war erst 11, vielleicht erbarmten sich die Soldaten? Lehrer würden doch auch in Zukunft noch gebraucht werden.

„Bitte lass Marianne mit uns fahren.“ Charlotte ruckelte aufgeregt auf dem Stuhl herum, den Elfriede ihr ans Feuer geschoben hatte. „Sie kann zwar nur eine kleine Tasche mitnehmen, aber mit dem Auto schaffen wir’s bestimmt. Dann sind wir zusammen und Ilse und du, ihr kommt nach.“

Elfriede sah das junge Mädchen verstört und ängstlich an. Seit Tagen wusste sie davon, dass die Neumanns Stolp verlassen würden. Leopold Neumann, Richter am Amtsgericht in Stolp und strammer Nazi, war für viele Urteile zuständig, die unschuldige Menschen ins Unglück gestürzt hatten. Jetzt  fürchtete er sich vor dem, was eine russische Besatzung für ihn bereithalten würde.

Das Auto, ein Horch, das die Neumanns wegen der Benzinrationierung nur selten fuhren, parkte seit gestern auf der Straße. Eva, Charlottes Mutter, trug zusammen mit dem Dienstmädchen Taschen und Koffer aus dem Haus.

Sollte sie wirklich ihre ältere Tochter mit den Neumanns mitschicken? Elfriede rückte noch enger an das kleine Feuer heran. Marianne war mit ihren 17 Jahren, den dicken blonden Zöpfen, blauen Augen und weiblichen Formen eine große Sorge für die Mutter. Was würde ihr passieren, wenn die russischen Soldaten in Stolp einrückten. Konnte man sie verstecken? Sollten sie versuchen, Marianne als ältere Frau zu verkleiden? Und wenn das bemerkt wurde, welche Strafe drohte ihnen dann?

Mit anderen Frauen hatte Elfriede darüber in den letzten Wochen oft gesprochen. Alle fürchteten sich, viele so sehr, dass sie eine unsichere Flucht oder sogar Selbstmord für eine bessere Lösung hielten, als der roten Armee in die Hände zu fallen. Das Angebot der Neumanns war eine Chance, wenigstens für ihre ältere Tochter.

„ Charlotte, sag deinen Eltern tausend Dank. Ich muss ein bisschen nachdenken und mit meinen Töchtern sprechen. Spätestens um 12 komme ich zu euch und gebe Bescheid.“

Mit einer Umarmung verabschiedete sie das Mädchen und sah ihr durchs Fenster nach. Charlotte hüpfte den vereisten Weg entlang, als ob sie am Abend einen aufregenden Ausflug machen würde. Elfriede seufzte.

Eine Entscheidung musste getroffen werden. Am besten ohne mit Marianne zu sprechen, denn die hatte ihrer Mutter schon seit Tagen in den Ohren gelegen, ihr eine Fluchtmöglichkeit nach Westen zu verschaffen. Schnell zog Elfriede sich an und verließ leise das Haus, ohne die Mädchen zu wecken.

Es hatte letzte Nacht nicht geschneit, aber die Gehwege waren vereist und so rutschig, dass Elfriede sich ein paar Mal an Gartenzäunen festhalten musste, um nicht hinzufallen. Ein grauer Himmel mit vereinzelten schweren Wolken kündigte Schneefälle an.  Die Straße war leer, die Menschen gingen in diesem Februar nur vor die Tür, um nach Brennmaterial zu suchen. Lebensmittel gab es schon seit Wochen kaum noch zu kaufen und wer nichts eingekellert hatte, litt Hunger.

Nur wenige Querstraßen entfernt klopfte Elfriede  an die Tür eines kleinen Gartenhauses. Von drinnen ertönte die helle musikalische Stimme ihrer Freundin Valeska.

„Ja, bitte?“

„Vally, ich bin es, lass mich bitte rein, ich muss mit dir sprechen.“

Elfriede und Vally stammten beide aus dem Ort Schneidemühl. Aufgewachsen in der Strenge des kaiserlichen Deutschlands, beide die ältesten Töchter kinderreicher Familien, waren sie zusammen in die Schule gegangen und hatten das Lehrerkollegium besucht. Während sich die kleine, lebenslustige Vally eher zu Musik und Kunst hingezogen fühlte, war Elfriede eine strenge und doch liebevolle Lehrerin geworden. Ihren Schülern wurde eine gründliche Ausbildung in deutscher Grammatik, Mathematik und Geschichte zuteil.

Vally hatte nie geheiratet. Ihr Verlobter, ein Theologiestudent, war 1918 auf einer Parkbank eingeschlafen und erfroren. Seinen Tod hatte Vally nicht verwinden können. Bis ins hohe Alter sprach sie von ihm als dem geliebten Mann, ein anderer kam  für sie nie in Frage.

Als Elfriede dann 1927 heiratete und mit ihrem Mann nach Stolp zog, bewarb sich Vally noch im selben Jahr um die Stelle einer Musiklehrerin an der Musikschule von Stolp und folgte ihrer Freundin. Die beiden waren in vieler Hinsicht  ein ungleiches Gespann. Vally, klein und rund, immer mit einem fröhlichen Lachen und einem Lied auf den Lippen. Elfriede, hochgewachsen, ein ernstes, fasst verkniffenes Gesicht. An den Pflaumenbaum in ihrem Garten trauten sich die Kinder nicht heran, denn wenn man beim Pflücken erwischt wurde, gab es die Rute.

Seit dem Tod Otto Eggerts, war die Freundschaft der beiden noch enger geworden und für Marianne und Ilse war Tante Vally der willkommene Ausgleich zu einer strengen Mutter.

„Wie verfroren du aussiehst, komm setzt dich mit mir aufs Sofa und wir decken uns mit der Daunendecke zu.“ Vally sah die Freundin fragend an. „Was ist passiert, ist eines der Mädchen krank?“

Schnell erzählte Elfriede vom Besuch Charlottes am frühen Morgen. „Was sollen wir tun? Wenn wir Marianne mitfahren lassen, wie werden wir sie je wiederfinden? Was soll aus ihr werden, falls wir die Flucht nicht schaffen? Werden die Neumanns sich dann um sie kümmern?“ Tausend Fragen und Ängste schwirrten in ihrem Kopf herum.

Vally blickte nachdenklich vor sich hin. Vier Frauen ohne männlichen Schutz, sie und Elfriede, 47 Jahre, Marianne, 17, und Ilse, mit 11 noch ein Kind – sie alle waren in großer Gefahr. Konnte Marianne in Sicherheit gebracht werden, so würde wenigstens sie den Gewalttaten entgehen. Andererseits – jetzt die Familie auseinanderzureißen, war das eine gute Idee?

„Und wenn wir Marianne verstecken, sobald die Russen kommen?”

Aber wo? Welches Versteck würde sicher genug sein, um von den Soldaten nicht entdeckt zu werden? Hin und her ging das erregte Gespräch und schließlich einigten sich Vally und Elfriede darauf, Marianne nicht mit den Neumanns fahren zu lassen. Es war wichtig, dass sie jetzt alle zusammenblieben. Stattdessen wollten sie versuchen, sie so zu schminken und anzuziehen, dass sie wie eine alte Frau aussah und nicht wie ein junges Mädchen.

„So machen wir es.“

Elfriede verabschiedete sich rasch und eilte nach Hause. Sie hatten eine Entscheidung getroffen, die sie für den Rest ihres Lebens bereuen sollten.

In der Falle

Die Neumanns waren am Abend des 15. Februar ohne Marianne abgefahren. Am selben Tag hatten die deutschen Truppen das Unternehmen Sonnenwende begonnen, ein letzter verzweifelter Versuch, die Rote Armee abzuwehren. In den blutigen Schlachten der folgenden Wochen drang die russische Armee immer weiter nach Westen vor. Am 5. März erreichte sie die Ostsee, am  8. März eroberte sie Stolpmünde und noch am selben Nachmittag marschierte sie in Stolp ein.

Marianne hatte auf die Weigerung ihrer Mutter, sie mit den Neumanns fahren zu lassen, zunächst mit Wut und Tränen, schließlich aber mit Schweigen reagiert. Elfriede kam es fast so vor, als ob für ihre Tochter die Trennung von der Freundin schlimmer war, als die Aussicht bald den gefürchteten Russen gegenüberzustehen.  Vorsichtig versuchte sie, mit ihrer Tochter über die Gefahren zu sprechen, die bald auf sie zukommen würden.

Noch in der letzten Februarwoche hatte Vally einen kleinen Handwagen mit ihren Sachen gepackt, das Gartenhaus zugeschlossen, und war zu den dreien gezogen.

„Jetzt können wir abends zusammen singen, brauchen nur Holz für einen Ofen und Elfriede kann sowieso nicht richtig kochen. Ich übernehme das!“, sagte Vally, als sie ihre Sachen ins Haus trug. Sogar Marianne lächelte über die resolute Freundin ihrer Mutter. Von jetzt an würde es nicht mehr ganz so trübe im Haushalt der Eggerts sein.

Und während immer mehr Familien ihre Sachen packten und Stolp verließen, versuchten die vier ein halbwegs normales Leben zu führen. Elfriede unterrichtete die Mädchen am Morgen, mit Vally übten sie Kanons am Klavier. Wenn das Wetter es zuließ, gingen sie nachmittags oft zum Grab Ottos. Er war vor zwei Jahren an Krebs gestorben und besonders Ilse trauerte immer noch sehr um ihren Vater.

Im Herbst 1944 hatte Elfriede einen großen Erdhaufen im Keller angelegt. Alles, was im Garten geerntet wurde, hatte sie dort verbuddelt. Karotten, Kartoffeln, Kohl und Rüben waren so haltbar gemacht worden. Marianne und Ilse hatten viele freie Stunden in den unendlichen Kiefernwäldern verbracht, Blaubeeren gepflügt, Pilze gesammelt und an den Abenden eingekocht und getrocknet.

Vally kochte mit diesen Vorräten Eintöpfe, die Pilze ersetzten das Fleisch, füllten die Mägen und hoben die Stimmung.

Und trotzdem – besonders Ilse war von einer diffusen Angst befallen. Die meisten ihrer Schulfreunde waren fort. Die leeren Häuser mit ihren gardinenlosen, schwarzen Fenstern, die wie tote Augen aussahen, starrten sie unheimlich an, wenn sie auf der Suche nach Brennholz draußen war. Überall auf den Straßen waren Flüchtlinge unterwegs, viele kamen aus Ostpreuβen und sahen verhungert und krank aus. Geschützdonner war jetzt immer öfter und lauter zu hören.

Wodka, Borschtsch und goldene Uhren

Am Tag vor dem Einmarsch der russischen Truppen hatte die deutsche Verwaltung den Räumungsbefehl für Stolp gegeben. Panikartig packten die Menschen Taschen auf Handwagen und reihten sich in den Treck ein. Elfriede, Vally und die Mädchen blieben zurück.

Seit es klar war, dass die Eroberung Stolps unmittelbar bevorstand, war nur noch die beherzte Vally auf die Straße gegangen. Die anderen verharrten vor Angst gelähmt zuhause. Sie sprachen kaum miteinander; warteten angespannt auf das, was nun kommen würde.

Und dann waren sie da.

Die erste Welle der Roten Armee erreichte die Innenstadt kurz vor Einbruch der Dunkelheit. Gewehrschüsse, klirrende Fensterscheiben, Schreie waren zu hören. Einige Stunden später spiegelte sich der Schein gewaltiger Flammen in den Fenstern von Elfriedes Haus. Die Innenstadt brannte.

Wenn man lange Zeit vor etwas große Angst gehabt hat, kann es fast wie eine Erlösung sein, wenn es dann endlich passiert.

Fast so empfanden es die Frauen, als spät in der Nacht die Tür des Hauses eingetreten wurde. Ein Trupp junger Soldaten, bewaffnet und nach Feuer und Schnaps riechend, stürmte hinein. Uhren wollten sie, den Liquör tranken sie aus, rissen alle Schubläden aus den Schränken, nahmen das Silberbesteck, schrien laute Befehle, die Elfriede nicht verstand.

Marianne war bis zur Unkenntlichkeit geschminkt worden. Hässliche Pickel, schwarze Zähne, aschgraue Haut. Die Soldaten würdigten sie kaum eines Blickes. Ilse dagegen streichelten sie über den Kopf.

Nach einer Stunde waren sie fort.

Vally und Elfriede nahmen die Mädchen in die Arme.

„Seht ihr, so schlimm sind sie doch gar nicht!“ Elfriede hob einen umgestürzten Sessel auf und ließ sich erleichtert hinein sinken. Ihre Beine waren schwach vor Anspannung. „Wenn wir ihnen alles geben, was wir an Wertsachen haben, werden sie uns in Ruhe lassen. Marianne, du darfst nicht sprechen, wenn sie wiederkommen. Deine Stimme verrät dich. Ilse, lach die Soldaten freundlich an, sie sind doch wirklich nett zu Kindern.“

 Aufgeregt liefen sie im Durcheinander der umgeworfenen Möbel hin und her, stellten einen Stuhl wieder an seinen Platz, hoben einen Haufen Papiere vom Boden auf. Das war doch jetzt alles nicht so wichtig! Sie hatten die Russen getroffen, das waren auch Menschen, niemand hatte ihnen etwas getan. Und sie, Elfriede, hatte doch Recht gehabt, nicht auf die Flucht zu gehen.

Der ersten Welle russischer Soldaten folgte der Einzug der regulären Armee in Stolp. Zu Fuß, mit Panzern, Pferden und Jeeps zogen sie in die Stadt ein.

Der Morgen des 10. März sah nach endlosen grauen und kalten Tagen wie ein Vorbote des Frühlings aus. Die Sonne kam zögerlich hinter den Wolken hervor und erste Vogelstimmen waren zu hören. Bei den vier Frauen war die erste Erleichterung einem ängstlichen Warten gewichen. Wie würde es nun weitergehen?

Mittags klopfte es heftig an die notdürftig reparierte Haustür. Elfriede, die öffnen ging, nahm es als ein gutes Zeichen, dass man nun anklopfte statt die Tür aufzubrechen.

Drauβen stand ein Jeep. Ein Offizier mittleren Alters stieg aus; die braune Uniform verschmutzt, das Gesicht grau, die Augen eingefallen von Hunger und Müdigkeit.

„Frau“, er zeigte auf die obere Wohnung, die seit Wochen leer stand. Mit Gesten und einigen Worten auf Deutsch, vermischt mit viel Russisch, wies er Elfriede an, sein Gepäck nach oben zu tragen und die Wohnung zu öffnen. Bettdecken und  Brennholz wollte er, auch etwas zu essen. Er war bestimmt, aber trotzdem höflich.

Elfriede und Vally liefen treppauf, treppab. Bald kamen andere Soldaten dazu und auch eine russische Soldatin nahm Bezug in der Wohnung.

Während Marianne im Schlafzimmer versteckt blieb, hatte Ilse sich an dem Herauftragen von Holz, Tellern, Besteck und warmen Decken beteiligt. Neugierig sah sie den Russen zu, die ihre dreckigen Stiefel auf den Tisch legten, übel riechende Zigaretten pafften und lautstark redeten. Einer der Soldaten winkte sie zu sich heran und drückte ihr einen winzigen Bonbon in die Hand. Er hatte freundliche braune Augen, aber seine Gesichtszüge waren slawisch und fremd. Ängstlich machte sich Ilse los und lief die Treppe hinab. Hinter sich hörte sie das Lachen der Soldaten.

Am Abend kochte Vally mit den Zutaten, die der Offizier im Laufe des Nachmittags organisiert hatte, einen richtigen Borschtsch. Das zufriedene Schmatzen und Klappern der Löffel konnte Ilse bis in ihr Zimmer hören. Bis tief in die Nacht lauschte sie dem Singen und den lauten, betrunkenen Stimmen der Soldaten, die es sich nun in der Schillerstraße bequem gemacht hatten.

Entscheidung zum Aufbruch

Der Einzug russischer Soldaten in die Schillerstraβe schien zunächst in vieler Hinsicht ein Glück für Elfriedes Familie zu sein.

Die noch verbliebene deutsche Bevölkerung Stolps, ausschließlich Frauen, Kinder und alte Leute, wurde zu schwersten Arbeiten gezwungen. In den Ruinen der Innenstadt mussten sie Leichen ausgraben, Straßen freiräumen und  Schutt wegkarren.

Elfriede und Vally waren von solchen Arbeiten befreit, denn die ‚Mieter‘ im 1. Stock brauchten die Frauen zum Kochen, Putzen, Waschen und Singen.

Seit sie das Klavier in Elfriedes Wohnung entdeckt hatten, kamen sie abends oft betrunken herunter. Vally spielte nach Gehör die melancholischen Melodien und die Soldaten sangen. Voller Heimweh und Trauer. Das waren Momente, in denen die Menschen in der Schillerstraße sich trotz allem ein bisschen näher kamen. Viele der Lieder hat Vally nie vergessen.

Die Arbeit war nicht zu schwer, körperliche  Übergriffe hatte es bisher nicht gegeben und von dem Essen, das sie für die Russen kochten, konnten die Frauen genug abzweigen, um selber nicht zu verhungern.

Im Vergleich mit den meisten Deutschen in Stolp, die nur noch durch Stehlen überleben konnten, ging es den vieren gut. Doch dieser Friede hielt nicht lange an.

Während Ilse den beiden Frauen tagsüber half, hielt Marianne sich fast ununterbrochen im Schlafzimmer versteckt. Selten kam sie heraus, um etwas zu essen oder das Badezimmer zu benutzen.

Doch dann passierte es.

An einem Samstagabend, als die Soldaten besonders laut feierten und Elfriedes Wohnung tanzend und singend in Beschlag genommen hatten, drangen sie plötzlich in das Schlafzimmer ein. Sie zogen Marianne aus dem Bett und ein junger Russe wischte ihr mit dem Ärmel über das Gesicht. Lachend zeigte er auf die gesunde Haut, die da unter der Aschfarbe zum Vorschein kam. Binnen kurzem war das Schlafzimmer mit Schreien und Rufen erfüllt, Soldaten drängelten sich hinein, wollten Marianne sehen, wollten Marianne anfassen.

Während Elfriede versuchte, ihre Tochter zu schützen, raste Vally die Treppe hinauf, um den Offizier zu holen. Er war über die Wochen freundlich und niemals zudringlich gewesen. Es war ihm wohl bewusst, dass die Frauen Essen für sich selbst abzweigten. Vielleicht dachte er an seine eigene Familie, die in Russland zurückgeblieben war, dort ebenfalls ums Űberleben kämpfte und  Hunger litt.

Vally fand ihn fest schlafend auf dem Sofa. Ihn wachzurütteln schien unmöglich zu sein, die Wodkaflasche auf dem Nachtisch war fast leer.

Vally rannte die Treppe wieder hinunter und hörte noch von oben Elfriedes Stimme: „Lasst meine Tochter in Ruhe, nehmt mich! Bitte, lasst sie doch in Frieden.“

Ein lautes Schluchzen folgte.

Doch als Vally das Schlafzimmer erreichte, hatte sich die Situation wie durch ein Wunder völlig gewandelt.

Bisher war die russische Soldatin kaum aufgefallen. Sie war wohl die Sekretärin, vielleicht auch Geliebte des Offiziers. Still und freundlich war sie gewesen. Nun stand sie drohend und laut auf Russisch schreiend vor dem Bett. Die jungen Soldaten schienen fast Angst vor ihr zu haben. Was sie da sagte, konnte Vally nicht verstehen, aber sie spürte, dass sie Marianne verteidigte! Oh, es gab doch noch gute Menschen in dieser Welt. Vally schossen die Tränen in die Augen. Sie drängelte sich zum Bett durch und zusammen mit der Soldatin gelang es, die Männer aus dem Zimmer zu stoßen, zu schubsen, zu schieben.

„Danke, spasibo“, Elfriede hielt die Hand der Russin für einen Moment ganz fest. Dann war auch die verschwunden und sie verschlossen die Schlafzimmertür von innen.

Lange dauerte es, bis die Mädchen sich etwas beruhigt hatten und zu Bett gingen. Elfriede und Vally aber schliefen beide nicht in dieser Nacht.

Im Morgengrauen, als die Soldaten endlich zur Ruhe gekommen waren, schlichen sie leise in die Küche. Zwischen umgefallenen Flaschen, zerbrochenen Gläsern, schmutzigen Tellern, bahnten sie sich den Weg zum Herd und wärmten Wasser für Tee. Damit setzten sie sich an den Küchentisch.

„Elfriede, wir müssen weg!“ Vally sprach mit fester Stimme. „Das, was letzte Nacht passiert ist, wird sich wiederholen. Dann kann niemand uns helfen. Es ist nicht mehr so kalt, wir werden nicht erfrieren. Lass uns heute noch packen und verschwinden. Je länger wir bleiben, umso gefährlicher wird es für Marianne und vielleicht auch für uns beide.“

Elfriede hatte die Hände um die warme Tasse gefaltet. Ja, Vally hatte Recht. Wie sehr sie auch gehofft hatte, dass sie würden bleiben können. Das, was hier passierte, konnte sie nicht ertragen. Würde ihre Tochter das Opfer einer Vergewaltigung werden, dann wollte sie nicht mehr leben.

Elfriede nickte, langsam hob sie die Augen und blickte ihre Freundin entschlossen an. „Wir gehen heute Nacht.“

Du!

Nun war es den Deutschen nicht verboten Stolp zu verlassen. Im Gegenteil, es war ja im Interesse Stalins, den Osten Deutschlands frei zu machen, um Raum für die Westverschiebung Polens und dessen Bevölkerung zu schaffen.

Trotzdem, Elfriede und Vally waren nicht sicher, wie die Russen im oberen Stockwerk auf ihre Flucht reagieren würden. Deshalb ging das Packen in großer Heimlichkeit vor sich. Zwei kleine Koffer wollten sie auf den Handwagen schnallen, dazu jede einen Rucksack mit soviel Nahrungsmitteln schultern, wie sie den Tag über zusammentragen konnten. Das war alles.

In die Koffer kamen zwei Photoalben, das Stammbuch, Zeugnisse, ein bisschen Wäsche, warme Kleidung und ein kleines Gemälde.  Elfriede hatte es für Ilse zum Geburtstag gekauft, es zeigte den Kiefernwald und Strand in Stolpmünde, Ilses liebster Platz auf der Welt. Vielleicht ahnten sie, dass sie nie wieder zurückkommen würden.

Den Tag über gruben sie im Keller Kartoffeln aus, kochten sie und füllten die Rucksäcke mit allem Essbaren, was zu finden war. Als es Nacht wurde und im 1. Stock Stille eingekehrt war, zogen die vier alle warmen Sachen übereinander, die sie hatten. Marianne war bis zur Unkenntlichkeit geschminkt und in den zwei warmen Mänteln, die sie trug, wirkte sie unförmig und plump.

Noch vor dem ersten Morgengrauen schlichen sie hinaus. Ein letzter Blick auf das Haus, den Garten; würden sie das alles je wiedersehen?

Als sie die Schillerstraße hinter sich gelassen hatten, atmete Elfriede auf. Die Russen hatten nichts bemerkt, nun galt es, aus der Stadt herauszukommen.

Vorbei an der stark zerstörten Marienkirche, verbrannten Häusern und Geschäften ging ihr Weg. Stolp war bis zur Unkenntlichkeit verwüstet. Keine sprach ein Wort. Erschüttert und kalt vor Angst trafen sie schließlich auf die Stolpmünder Chaussee, die sie westwärts aus der Stadt hinausführen sollte.

Es waren bereits einige Menschen auf der breiten Straße, sie schoben Handwagen, Kinderwagen oder hatten einfach nur eine Tasche über dem Arm. Sie alle hatten lange gewartet, auf die Flucht zu gehen.  Viele hatten, wie Elfriede, nicht wahrhaben wollen, dass eine russische Besatzung das Ende ihres Lebens in der Heimat bedeutete. Nun wollten sie fort.

Nach wenigen hundert Metern sah Vally die Straßensperre, die sich über die ganze Breite der Chaussee zog.

Die Rote  Armee hielt ständig Ausschau nach brauchbaren deutschen Arbeitskräften und konfiszierte alle Arten von Wertgegenständen.

Zwei bewaffnete Soldaten, in je einer Fahrtrichtung stehend, kontrollierten die Menschen. Da fast niemand nach Stolp hinein wollte, viele aber hinaus, hatte sich auf der rechten Fahrbahn eine Schlange von etwa 50 Flüchtlingen gebildet.

Von hinten beobachteten Elfriede und Vally was vorne passierte.

Der Soldat durchsuchte Kinderwagen und Taschen. Von Zeit zu Zeit nahm er Gegenstände heraus und warf sie zur Seite. Das Wichtigste aber war, dass alle den Kontrollpunkt passierten.

Ganz dicht standen Ilse und Marianne hinter den Frauen. Vally nahm die Hände der beiden und flüsterte ihnen zu. „Ihr dürft nicht sprechen und den Soldaten nicht ansehen, wenn wir an der Reihe sind. Bleibt ganz dicht bei mir und lasst Elfriede mit dem Handwagen vorgehen.“

Die Schlange bewegte sich in unendlicher Langsamkeit voran.

Und dann standen sie vor dem Soldaten.

Er wies Elfriede an, einen der Koffer zu öffnen, stocherte kurz mit dem Gewehr darin herum, fand aber nichts von Interesse. Schon war Elfriede an ihm vorbei. Nun kamen Vally und die Mädchen. Kurz blickte er Vally an, sie ging an ihm vorbei, zog die Mädchen hinter sich her.

Als sie fast bei Elfriede waren, hörten sie seine Stimme. „Du!“

Das Gewehr auf Marianne gerichtet wies er sie mit einer Bewegung des Kopfes an, an die Seite zu treten. Mit der freien Hand zog er die Mütze von ihrem Kopf, unter der die langen Zöpfe zum Vorschein kamen. Er stieß sie grob gegen die Brust, so dass Marianne zur Seite fiel.

Dann hob er drohend das Gewehr gegen die beiden Frauen und befahl ihnen, weiterzugehen.

Ein Schrei kam aus Elfriedes Mund, sie hob die Hände und streckte sie ihrer Tochter entgegen, die auf dem Boden lag.

Marianne sah ihre Mutter an. Kaum drei Meter trennten sie und doch waren diese Meter eine unüberbrückbare Entfernung. Eine Entfernung, die das Leben vom Tod trennte.

„Du bist schuld.“ Mariannes  Augen waren hart, ihre Stimme tonlos. Dann wandte sie sich ab.

Auf dem Weg nach Westen

Vielleicht einen Kilometer liefen Elfriede, Vally und Ilse, bevor sie im Straßengraben niedersanken. Weinend und jammernd hielten sie einander umarmt. Ilse wurde von Schluchzen geschüttelt. Keine einzige Frage stellte sie.

Intuitiv war ihr klar, dass sie ihre Schwester verloren hatte und durch die Verzweiflung der beiden Frauen konnte sie fühlen, dass dies für immer war.

Stumm und taub vor Schmerz machten sich die drei schließlich auf den Weg.

Es war Mitte April und das Wetter noch nicht warm. Der lange, schneereiche Winter hatte den Pegel der Flüsse ansteigen lassen. Alle Wege waren matschig und es war unmöglich, einen trockenen Platz zu finden, wo sie sich hinsetzen und ausruhen konnten. Nach nur wenigen Kilometern waren ihre Schuhe durchnässt, und eine klamme Kälte breitete sich im Körper aus.

Trotz allem war es erträglicher, jetzt zu Fuß unterwegs zu sein, als im Februar, wo nicht nur die Kälte, sondern vor allem die Schneemassen ein Vorwärtskommen oft unmöglich gemacht hatten.

Den ganzen Tag liefen sie, fast ohne ein Wort.  Mit jedem Kilometer, den sie sich von Stolp und damit auch von ihrer Tochter entfernte, wurde Elfriede bewusster, welchen Fehler sie gemacht hatte. Mit ihrem Wunsch, die Familie zusammenzuhalten, hatte sie eine unermessliche Schuld auf sich geladen. Dieser Gedanke würde meine Groβmutter von nun an immer begleiten.

Der Treck nach Westen war ein Kampf ums Űberleben. Es galt, etwas zu Essen zu finden, einen Schlafplatz zu organisieren, zusammenzubleiben. Hinter der Roten Armee folgten die Flüchtlinge und sie liefen in den Spuren der Zerstörung.

Jeder, so schien es, war jetzt auf sich selbst gestellt. Űber Straßen, Wald- und Feldwege liefen die drei im Schnitt 10 – 15 Kilometer am Tag.

Das Elend, das ihnen überall begegnete, war unvorstellbar. Ilse, 11 Jahre alt, sah Verhungerte, Ermordete, achtlos am Straßenrand liegengelassen, weil keiner mehr die Kraft aufbrachte, sie zu beerdigen. Sie sah sprachlose Menschen, die am Wegrand ausruhten und einander nicht beachteten, die kranken Augen in das Nichts gerichtet. Sie zogen an vor Hunger schreienden Tieren vorbei, an Pferden, die im Graben verreckt waren und aus denen Vorbeiziehende Fleischbrocken herausgeschnitten hatten. All diese Bilder  brannten sich in das Gedächtnis des Kindes ein.

Nach wenigen Tagen waren die Essensvorräte der drei verbraucht und der Hunger begann. Die Bauern, die noch auf ihren Höfen verblieben waren, zeigten sich zwar am Schwarzhandel interessiert, nicht aber daran, die endlose  Schar der Flüchtlinge umsonst zu versorgen.

So blieb den Frauen nichts anderes übrig, als zu stehlen. Diebstahl, das war in den Augen  Elfriedes, die doch selbst ihren Pflaumenbaum in Stolp vor den Kindern verteidigt hatte,  ein unverzeihliches Vergehen.

Vally dagegen sah die Situation pragmatischer.

„Wenn wir nichts zu essen finden, werden wir in wenigen Tagen zu schwach sein, um weiterzulaufen. Wenn wir nicht klauen, hätten wir ebenso gut in Stolp bleiben können. Dann wären wir da umgekommen.“

Schließlich willigte Elfriede ein. 

Ӓhnlich wie Oliver Twist wurde nun Ilse in der Kunst des Diebstahls geschult. Denn sie war diejenige, die das Stehlen übernehmen sollte. Wurde ein Erwachsener erwischt, so konnte das die sofortige Erschieβung bedeuten. Ein Kind dagegen würde vielleicht Mitleid erwecken.

In einen großen Mantel nähte Vally zwei  Innentaschen. Sie zeigte Ilse, wie man unbemerkt etwas einsteckt und trotzdem seine Umgebung beobachtet.

Schließlich zog Ilse los.

Aber wo sollte sie etwas zu essen finden? Geschäfte gab es längst nicht mehr. Von den anderen Flüchtlingen zu stehlen, das traute sie sich nicht.

In einem kleinen Ort kam ihr ein abgemagerter Hund entgegen. Seit Wochen hatte Ilse keine Hunde oder Katzen mehr gesehen, sie waren längst alle geschlachtet worden.

Erstaunt betrachtete sie ihn genauer. Er trug einen Knochen im Maul! Ilses Blick folgte der Richtung, aus der der Hund gekommen war. Dort lag die Russische Kommandantur.

Ӓngstlich schlich sie näher. An der Seite des Hauses waren Mülltonnen zu sehen. Und wirklich – ähnlich wie der Hund durchwühlte Ilse die Tonnen. Dazu musste sie einen schweren Holzklotz an die Tonnen ziehen, den sie als Stuhl benutzte. Bei jedem Geräusch versteckte sie sich. Klein und so mager wie sie war, war das kein Kunststück.

Wenig später kam ein ernst blickendes Kind die Straße entlang. Es trug einen Mantel, der  nicht nur viel zu groß war, er hing auch ausgebeult fast bis auf den Boden.

Vally und Elfriede konnten ihr Glück kaum fassen, als Ilse, bei ihnen angekommen, den Mantel fallen lieβ.

Kartoffelschalen, vergorenes Obst, mehrere Kanten verschimmeltes Brot. An diesem Abend gab es ein Festessen und das erste Mal seit langem schliefen sie ohne Hunger ein.

Am folgenden Morgen machten sich die drei wieder auf den Weg. So liefen sie einen ganzen Monat, über Köslin und Kolberg, bis sie im Mai nach 270 Kilometern Stettin erreichten. Die Oder lag vor ihnen.

Meine Mutter, das Kind

Ilse wurde im November 1933 geboren. Meine Großmutter Elfriede war nach der Geburt Mariannes 1928 lange nicht wieder schwanger geworden und so lagen fünf Jahre zwischen den Mädchen.

Zwar hatten die Eltern auf einen Stammhalter gehofft, aber über die Geburt einer gesunden Tochter waren sie beide froh, hatten sie doch kaum noch ein zweites Kind erwartet.

War Marianne eher still und saß bei der Mutter auf dem Schoß, so wuchs Ilse als der Liebling ihres Vaters auf. Otto, von Beruf Straßenbauingenieur, ein liebevoller und weichherziger Mann, verbrachte viel Zeit mit seiner Tochter. Besonders die Wochenendausflüge nach Stolpmünde vereinten die beiden.

Von Mai bis in den späten September bestieg die Familie am Sonntagmorgen die Eisenbahn und fuhr mit Picknickkorb, Badesachen und der Zeitung ausgerüstet in das schöne Seebad. Breite Sandstrände, ein Kiefernwald, der bis an den Strand reichte, und die flache Ostsee – das war Ilses Kindheitsidylle.

Die ganze Saison über mieteten sie einen Strandkorb, den sie am Sonntagnachmittag mit einer Holzplatte verschlieβen konnten. Er diente als Schutz vor dem Wind, Hochsitz für meine Mutter, Sitzgelegenheit für die Eltern und Esszimmer, damit der Sand nicht das Picknick verdarb.

Bei Sonne, Regen und Sturm verbrachten die Eggerts dort ihren freien Tag. Ilse lernte früh schwimmen, sie machte Ausflüge in den Wald und kam mit Pilzen zurück, die ihr Vater sie zu bestimmen lehrte. Während Marianne gerne in der Sonne lag und ein Buch las, tobte Ilse am Meer herum.

Es sind diese Erinnerungen, die Ilse die Flucht überstehen helfen. Die Bilder von jenen Jahren am Strand,  zusammen mit ihrem Vater, im Wasser, im Wald, im weichen Sand. Dort träumte sie sich hin, während sie einen Fuß vor den anderen setzte. Die Sehnsucht nach Pommern wird sie ein Leben lang begleiten, nicht nur als Trauer, auch als ein Schatz.

Und immer weiter

Stettin war Ende April von der Roten Armee erobert worden. Die Wehrmacht hatte auf ihrem Rückzug alle Eisenbahn– und Straβenbrücken über der Oder gesprengt. Hafenanlagen und Innenstadt waren ebenfalls dem Erdboden gleichgemacht worden.

Das Rote Kreuz half den dreien, eine Unterkunft für die Nacht zu finden und gab eine warme Suppe an die Flüchtlinge aus.

Am nächsten Morgen überquerten sie die Oder. Die zwei noch bestehenden Viadukte dienten als einzige Verbindung zum anderen Ufer.

Welche Richtung sollten sie jetzt einschlagen? Ihr Ziel war Thüringen, wo einer der Brüder Elfriedes eine Zuckerfabrik besaß. In ihrem letzten Briefwechsel vom Dezember 1944 hatte Willi seine Schwester gedrängt, zu ihm zu kommen.

Der gefahrlosere Weg führte an der Oder entlang, über Schwedt, Frankfurt an der Oder, Cottbus und Dresden nach Naumburg. Wenn sie diesen Weg nahmen, kämen sie nicht so oft durch große Städte und würden wahrscheinlich seltener auf Soldaten treffen.

Der schnellere Weg führte über Berlin, denn auf diesem Weg  war die Chance groβ, dass sie auf Güterzüge treffen würden, auf denen sie einen Teil der Strecke mitfahren konnten. Aber das bedeutete, im Treck zu bleiben und vor allem, die zerstörte Hauptstadt passieren zu müssen. Vor dieser Gefahr grauste es den Frauen

Schließlich siegte die Vorsicht. Elfriede, Vally und Ilse hielten sich südlich, sie liefen an der Oder entlang und verließen damit den Hauptweg des Flüchtlingszuges.

In vieler Hinsicht war das eine richtige Entscheidung. Die Jahreszeit war mild und an den Ufern des Flusses sahen sie Störche und Reiher. Nicht, dass die drei dem Naturschauspiel  groβe Aufmerksamkeit geschenkt  hätten. Aber unmerklich fiel trotzdem ein Teil der ungeheuren Anspannung von ihnen ab. Vielleicht nahmen sie unbewusst die Ruhe in sich auf, auch wenn ihr Blick meistens nach innen gerichtet war.

Drauβen zu schlafen bedeutete hier keine große Gefahr mehr und im Fluss konnten sie sich sogar waschen, eine Wohltat, die sie seit dem Verlassen Stolps nicht mehr erlebt hatten.

Die  Städte und Dörfer, durch die sie jetzt zogen, waren ebenfalls zerstört, doch gab es weniger Flüchtlinge. Von Zeit zu Zeit stieβen sie auf einen intakten Bauernhof und auch auf Menschen, die hilfsbereit waren. Einige Male lieβ man sie in Ställen übernachten. Manche Bauern gaben ihnen etwas Milch und Ilse war auch weiterhin oft mit dem groβen Mantel unterwegs. Sie entwickelte ein untrügliches Gespür für ‚gute‘ Mülltonnen.

Im Juni erreichten sie endlich Dresden. Seit zwei Monaten waren die drei unterwegs. Sie waren abgestumpft von dem Grauen, das sie gesehen und erlebt hatten. Abgemagert bis auf die Knochen, körperlich und geistig müde, wirkten sie wie Schatten ihres früheren Ichs.

Die Bombardierung der Alliierten hatte im Februar 25 000 Menschen das Leben gekostet und die Innenstadt Dresdens völlig zerstört.

Die Frauen wollten so schnell wie möglich um die Stadt herumgehen. In der Ferne sahen sie russische Soldaten, die ein Lager neben der Straße aufgeschlagen und sich zum Essen niedergelassen hatten.

Jedes Zusammentreffen mit der Roten Armee war gefährlich. Elfriede wechselte die Straßenseite und beschleunigte den Schritt. Ilse war zurückgefallen, es war warm in der Sonne und sie waren seit dem Morgengrauen gelaufen. Sie fühlte sich müde.

Plötzlich ertönte ein Pfiff von der anderen Straßenseite. Ein junger Soldat winkte Ilse zu und zeigte mit Gesten, dass sie zu ihm herüberkommen sollte. Ilses erster Gedanke war, davonzurennen. Vally hatte den Soldaten nun auch bemerkt und blieb stehen. „Bleib hier auf der Seite, ich geh rüber und finde heraus, was er will.“

Vally kreuzte die Straβe. Doch nein, der Soldat schüttelte bestimmt den Kopf. „Kind“, wieder winkte er Ilse heran.

Was sollte sie tun? Langsam ging Ilse auf die andere Seite und stellte sich dicht neben Vally.

Der junge Soldat hatte einen Blechnapf in der Hand, aus dem Dampf und ein guter Geruch aufstieg. Er hielt Ilse den Löffel hin und zeigte auf den Napf.

„Du sollst essen“, flüsterte Vally.

Zögerlich nahm Ilse den Löffel und tauchte ihn in den Essnapf. Sie nahm einen Bissen, dann wollte sie den Löffel zurückgeben. Doch der Soldat gestikulierte.

„Mehr, du kannst mehr essen.“

Halbleer war der Napf, als er schließlich den Löffel wieder entgegennahm, Ilse freundlich anlächelte und sich den anderen Soldaten zuwandte.

Vally legte Ilse den Arm um die Schulter und überquerte mit ihr die Straβe, wo Elfriede im Schatten auf sie wartete. Vally sah ihre Freundin an. „Wir haben so viel Schreckliches erlebt. Lass uns diesen freundlichen Menschen trotz allem nie vergessen.“

Im Juli 1945 kamen sie in Naumburg an, sie waren drei Monate gelaufen, hatten  700 Kilometer zurückgelegt, hatten tausende Male um ihr Leben gefürchtet und ein Leben zurücklassen müssen.

Teil 2: Leben in der sowjetischen Zone / DDR

Zitronenlimonade und ein Bett

Naumburg an der Saale ist eine Kleinstadt in Thüringen, wunderschön gelegen zwischen sanften Hügeln, die Flüsse Saale und Unstrut fließen in der Ebene zusammen. Das milde Klima ist gut für den Obst- und Weinanbau und die Menschen sprechen einen breiten, liebenswerten  Dialekt, der in die Landschaft passt.

Vor dem Krieg hatte Naumburg eine Bevölkerung von ca. 28 000 Menschen, im Juli 1945 waren noch einmal so viele Flüchtlinge dazugekommen und die Stadt musste fast 60 000 Menschen beherbergen.

Im April war Naumburg von den Amerikanern besetzt worden, doch nun, als Elfriede, Vally und Ilse ankamen, fiel Naumburg in die sowjetische Besatzungszone.

Der Dom war erhalten und auch ein Teil der Altstadt unzerstört. Für die drei wirkte die Stadt fast wie eine heile Welt, verglichen mit dem, was sie gesehen hatten. Es existierten noch so etwas wie intakte Strukturen, die hatten sie seit dem Verlassen Stolps nirgendwo mehr gesehen.

Es war Sommer und die warmen Mäntel längst im Handwagen verstaut. Von Naumburg waren es noch 16 km in nordwestlicher Richtung, dann würden sie am Ziel sein.

Elfriedes Bruder Willi besaß seit Jahren eine Zuckerfabrik in Laucha an der Unstrut, ein kleiner Ort, die Fabrik war der größte Arbeitgeber im Dorf.

Am frühen Morgen machten sich die drei auf ihre letzte Etappe.

Sie liefen am Ufer der Unstrut entlang, folgten den Windungen des kleinen Flusses, vorbei an grünen Feldern und Waldgebieten. Mittags machten sie Pause und zogen die Schuhe aus, um die müden Füβe im Wasser baumeln zu lassen. Fast hätte man denken können sie seien auf einem Sonntagsausflug, so schön und friedlich war es hier. Doch den eingefallenen Gesichtern hätte ein Beobachter wohl angesehen, dass dem nicht so war.

Am Nachmittag tauchte Laucha vor ihnen auf.

Dieser letzte Marsch, es war ein Tag, an dem die drei nach vielen Wochen erstmals mehr als das Nötigste sprachen. Was würde sie erwarten? Elfriede hoffte natürlich, dass die Fabrik noch bestand, vor allem aber, dass einige ihrer zahlreichen Geschwister auch den Weg hierher gefunden hatten. „Du wirst sehen Ilse, deine Cousinen aus Schneidemühl werden auch da sein. Wie schön wird das für dich, wieder andere Kinder zum Spielen zu haben.“

Spielen … das hatte Ilse in den letzten Monaten fast verlernt.

Mit Vally sprach Elfriede leise über Marianne. Sie hatte Angst, ihren Geschwistern von der Verschleppung zu erzählen. Diese Schuld lastete schwer auf ihren Schultern und lieβ sie nachts oft wach liegen. Vielleicht würde die Familie sich von ihr abwenden.

„Jedem hat das passieren können, Elfriede. Deine Vorsicht war doch gut gemeint. Wäre Marianne mit den Neumanns gefahren, hätte das auch keine Garantie für ihr Űberleben bedeutet.“

Die letzten Straßen – da lag die Fabrik, sie war unzerstört und aus dem Hof hörten sie Kinderstimmen.

Die Erleichterung und Wiedersehensfreude der ganzen Familie war unbeschreiblich. Umarmungen und Tränen, tausend Fragen, kurze Berichte, Kinderlachen, das erste Mal seit Monaten.

Charlotte, Elfriedes jüngere Schwester, hatte die Flucht mit ihren zwei Kindern geschafft. Ihr Mann war im Krieg gefallen. Bruder Kurt war aus dem Krieg zurückgekehrt und arbeitete als Arzt in Naumburg.

Willi, der eine wichtige Funktion als Betreiber der Fabrik innehatte, war nicht als Soldat eingezogen worden. Die Beschaffung der Zuckerrüben war während der letzten Kriegsmonate schwierig geworden, aber die Fabrik stand und arbeitete noch.

Charlotte machte Zitronenlimonade und Kartoffelsalat, und so saß ein Teil der  großen Familie an diesem lauen Juliabend im Garten. Jeder erzählte ein bisschen, meist waren es praktische Dinge, über die sie sprachen.

Von der Zerstörung Stolps und Schneidemühls, welche Bekannten geflohen waren, dass Charlotte das Familiensilber hatte retten können.

Űber die Grausamkeiten, die sie alle erlebt hatten, sprachen sie nicht und auch Mariannes Verschleppung wurde nur vorsichtig erwähnt. Nur sehr zögerlich werden sie später davon erzählen, das meiste aber verschlossen sie in sich und haben es niemals bewältigen können.

Doch an diesem Abend war die Familie wieder zusammen, wenigstens ein Teil von ihr. Im Verwaltungshaus war genug Platz für die drei. Vally und Elfriede bekamen ein eigenes Schlafzimmer und Ilse wurde zu ihrer Cousine Gesine ins Bett gepackt. In dieser Nacht schlief sie 15 Stunden.

Ein neues Zuhause

Reparationen sind Entschädigungen, die ein besiegtes Land den Siegern bezahlt. Die Alliierten hatten nach Kriegsende das Auslandsvermögen des Deutschen Reichs beschlagnahmt, Patente eingezogen und Devisen kassiert. Die Sowjetunion als das Land, das die schlimmsten Kriegsschäden erlitten hatte, erhielt das Recht zu Sachlieferungen und  zur Demontage von Fabriken aus ihrer Besatzungszone. Ca. 2 400 Betriebe wurden demontiert und per Zug nach Russland verfrachtet.

Einer von diesen Betrieben war Willis Zuckerfabrik, und als Besitzer und Leiter wurde er gezwungen mitzugehen. Der Befehl wurde Ende August zugestellt und schon ab dem 1. September sollte das Haus geräumt werden und der Abbau der Maschinen in der Fabrik beginnen. Wieder ein Abschied mit ungewissem Ausgang.

Für die drei aus Stolp bedeutete Willis Weggang, dass sie sich wieder auf den Weg machen mussten. Zwei Monate hatten sie sich ausgeruht, trotz der katastrophalen Ernährungslage einigermaßen zu essen bekommen, Ilse hatte gespielt und war in der Unstrut geschwommen. Elfriede und Vally hatten beide ein bisschen zugenommen und viel über die Zukunft gesprochen. Wie sollte es weitergehen?

Über den Suchdienst des Roten Kreuzes war Vallys Bruder gefunden worden, er war nach Nürnberg geflohen und arbeitete bereits. Nach langem Überlegen entschloss sich Vally, zu ihm zu ziehen.

Elfriede dagegen musste sich auf Arbeitssuche machen.

Eine zum Teil entnazifizierte deutsche Verwaltung war im Landkreis bereits unter amerikanischer Besatzung eingesetzt worden. Zu den unübersehbaren Aufgaben, die sie zu bewältigen hatte, gehörte es auch, das Schulwesen wieder in Gang zu bringen. Die meisten Kinder waren seit Ende 1944 nur noch sporadisch oder gar nicht mehr zur Schule gegangen.

Als Ostumsiedler hatte Elfriede gute Chancen, eine Anstellung zu finden. Umsichtig, wie sie war, konnte sie alle Zeugnisse ihres Studiums vorlegen und nach nur wenigen Wochen erhielt sie ein Anschreiben, dass der Ort Golzen eine Lehrerin für die Dorfschule brauchte.

Mitte September trennten sich die Weg der drei Stolperinnen. Elfriede und Ilse brachten Vally zum Bahnhof, sie würde sich auf die beschwerliche und lange Zugreise nach Nürnberg machen. Viele Tage mit endlosem Warten und überfüllten Zügen standen ihr bevor. Eine feste Umarmung und hundert Versprechen, sich oft zu schreiben. „Auf ein baldiges Wiedersehen, meine liebe Freundin!“ – dann war Vally fort.

Mutter und Tochter aber zogen aufs Dorf.

Die Schulbehörde hatte nicht nur für eine Anstellung gesorgt, sie kümmerte sich auch um die Unterbringung der künftigen Dorfschullehrerin.

Bei der Bauernfamilie Radestock stand ein Zimmer für die beiden bereit. Ilse und Elfriede packten wieder den Handwagen, der wie ein Wunder die Flucht überstanden hatte, und zogen ins zwei Kilometer östlich gelegene Dorf.

Welch friedliche Welt. Golzen hatte nur ein paar Hundert Einwohner. Neben Bahnhof, Gaststätte, Kirche und Schule schmückte ein kleiner Platz  mit alter Linde und Bänken die Mitte des Dorfes. Die meisten Einwohner waren Bauern.

Die Radestocks betrieben einen landwirtschaftlichen Kleinbetrieb, verfügten über einen Hektar Land, Geflügel, Kaninchen und ein paar Kühe. Da der Anbau von Kartoffeln und Rüben zur Versorgung im kommenden Winter eine vorrangige Aufgabe war, half die ganze Familie, hauptsächlich Frauen, Kinder und der alte Herr Radestock bei der Arbeit.

Trotzdem nahmen sie sich Zeit für einen herzlichen Empfang der beiden Ostumsiedler. Die schöne Wendung, jemand hat ‚das Herz auf dem rechten Fleck‘, sie traf für die Radestocks im besten Sinne zu.

Ilse wurde mit Milch und viel Gemüse aufgepäppelt. Elfriedes etwas hochnäsige Art gegenüber den ‚einfachen‘ Bauern nahmen sie mit einem Schmunzeln hin. Lange hielt sie das auch nicht durch. Bald schon war auch Elfriede von der bodenständigen Freundlichkeit der Radestocks entwaffnet und man sah sie zusammen mit den Bäuerinnen Kartoffeln schälen.

Am 15. September eröffnete die einklassige Landschule Golzen das Schuljahr und meine Großmutter unterrichtete 30 Kinder aller Alterstufen von der ersten bis zur sechsten Klasse in einem Raum. Ilse sollte die sechste Klasse wiederholen; sie war nun eine von Elfriedes Schülerinnen.

Eine solche Klasse zu unterrichten stellt enorme Anforderungen an den Lehrer. 30 Kinder mit verschiedenstem Vorwissen, Aufgaben und Alter müssen beschäftigt, diszipliniert und gefördert werden.

Für Elfriede war die Arbeit wie eine Gesundung nach langer Krankheit. Endlich hatte sie wieder einen Lebensinhalt, musste nicht mehr so viel nachdenken und konnte etwas Sinnvolles tun.

Die Älteren bekamen ihre Aufgaben am Morgen, dann ging sie mit den Kleinen auf Spaziergänge. Sie lehrte die Kinder das ABC mit einem Lied, Vögel nach ihrem Gesang, rechnete mit Kastanien, und ließ sie dann, zurück in der Klasse, schreiben und malen. Die Fünft- und Sechsklässler waren dann mit Erdkunde und Mathematik dran.

Nur in Geschichte wusste Elfriede nicht, was man jetzt unterrichten sollte. Die ‚Wahrheit‘ der letzten zwölf  Jahre, sie war ja  auf einmal nicht mehr gültig. Das Fach wurde erst mal  – wie  an vielen Schulen – einfach nicht behandelt.

Auch wenn Elfriede mit ihrer Schar an dem kleinen Ehrendenkmal für die russischen Soldaten vorbeiging, blieb sie stumm und beantwortete kaum die Fragen der Kinder. Die siegreiche Rote Armee, die die Deutschen vom Faschismus befreit hatte – ihr hatte sie den Verlust ihrer Heimat und ihrer Tochter gebracht.

Im kleinen Golzen sprach sich bald herum, dass Elfriede eine gute Lehrerin war und die Kinder gerne in die Schule gingen. Die Golzener grüβten sie freundlich auf der Straße und schickten kleine Geschenke mit in die Schule. Abends saßen die Eggerts bei den Radestocks in der Küche und erzählten Geschichten.

Die Hungerwinter 1946 und 1947, in denen in Deutschland mehrere hunderttausend Menschen starben, überstanden die beiden mit Hilfe der Bauern. Sie hatten so etwas wie ein neues Zuhause gefunden.

Entfremdung

Noch Ende 1945 hatte Elfriede sich an den Suchdienst des Roten Kreuzes gewandt. 20 Millionen Menschen galten nach dem Krieg als vermisst und überall in den Städten hatten Menschen Suchkarten aufgehängt. An Litfasssäulen, Hauswänden, Anschlagtafeln, überall sah man Fotos und Beschreibungen von Vermissten. In den Wochenschauen der Kinos wurden Fotos von Kindern gezeigt, die ihre Eltern suchten.

Elfriedes Suchkarte zeigte ein Foto von Marianne, aufgenommen im Sommer 1944, und folgende Beschreibung: „Wer weiβ etwas über Marianne Eggert? Sie wurde im April 1945 in Stolp / Pommern bei einer Straβenkontrolle von der Russischen Armee verhaftet. Sie ist 17 Jahre alt, mittelgroβ, hat lange blonde Haare, blaue Augen und trug bei ihrer Verhaftung einen schwarzen, langen Wintermantel. Angaben werden beim Roten Kreuz in Naumburg entgegengenommen.“

Auch wenn es wenig Hoffnung gab, so wollte Elfriede doch nichts unversucht lassen, nach ihrer Tochter zu suchen und Klarheit über ihr Schicksal zu erlangen.

Ilse hatte die sechste Klasse mit besten Noten abgeschlossen und einen Platz am renommierten Schulpforta Gymnasium in Naumburg erhalten. Der Schule angeschlossen war ein Internat und so kam Ilse nur noch in den Ferien, manchmal auch am Wochenende nach Golzen. Oft besuchte sie ihren Onkel Kurt in Naumburg und wurde immer häufiger zu Freunden nach Hause eingeladen.

Elfriede war in dieser Zeit  viel alleine.

Die zwei Fotoalben, die sie aus Stolp gerettet hatte, lagen oft auf dem Tisch, sie sah sich die Bilder ihres Mannes und ihrer Tochter an, die Fotos von Taufen und Einschulungen. All dies war verloren, die Menschen, das Land, ihr Haus.

Zwei Kriege hatte Elfriede erlebt und nun in der Sowjetzone sah sie, wie die Unfreiheit wieder am Erstarken war. Sie war müde davon, ein Opfer von Politik und Zwangsherrschaft zu sein.

Auch mit Ilse war es nicht einfach. Das Verhältnis von Mutter und  jüngerer Tochter war nie wirklich herzlich gewesen. Sehr unterschiedlich im Charakter – Elfriede akkurat, streng und fast pedantisch, Ilse voller Lebensfreude und Tatendrang – waren sie keine gute Ergänzung. Mit Vally verband Ilse eine viel tiefere Zuneigung als mit der eigenen Mutter.

Und doch hatte die Flucht Ilse ihrer Mutter näher gebracht. Sie war diejenige gewesen, die mit Disziplin den kleinen Trupp zusammengehalten hatte. Wenn Vally und Ilse morgens murrten, nicht aufstehen wollten, über Hunger klagten oder einfach nicht mehr weiter wollten, hatte sie die beiden motiviert. Sie stimmte ein Lied an oder erzählte eine kleine Geschichte aus Pommern. Sie selbst hatte nie geklagt. In den schlimmsten Hungertagen hatte sie ihrer Tochter fast ihre ganze Ration überlassen und wenn die anderen zu erschöpft waren, zog sie den Handwagen.

Ilse hatte all dies wohl bemerkt, und ohne es auszusprechen, die Stärken ihrer Mutter intuitiv, wie Kinder das oft tun, erkannt. Auch ihre Leistungen als Lehrerin waren Ilse nicht entgangen. Sie respektierte ihre Mutter dafür.

Doch das Jahr im kleinen Golzen, mit der Mutter in einem Zimmer, hatte die Gegensätze wieder aufleben lassen. Als das Schuljahr 1946 begann und Ilse nach Naumburg abfuhr, waren beide ein bisschen erleichtert über die Trennung.

Die altehrwürdige Klosterschule nahm erst nach dem Krieg auch Mädchen auf, und Ilse richtete sich mit ein paar anderen Schülerinnen in dem großen Schlafsaal ein. Aufgeregt und begeistert  war sie über die neue Freiheit.

Während der Nazizeit war Schulpforta eine Napola gewesen. Nun wollte man an die Tradition des althumanistischen Gymnasiums wieder anknüpfen. Neben Latein und Griechisch wurde viel Wert auf die klassische deutsche Literatur gelegt. Ilse füllte ihre Hefte mit Goethe- und Schillerzitaten. Marquis von Posas „Geben Sie Gedankenfreiheit Sire“, war ein vielzitiertes Wort in den Gesprächen mit Mitschülern.

Doch schon ab 1947 musste sich die Schule der neuen Ideologie anpassen. Russisch wurde als Pflichtfach eingeführt, Marx und Engels Schriften im Unterricht gelesen und die Sowjetzone als der bessere Teil Deutschlands dargestellt.

Eine Schulreise ins Konzentrationslager Buchenwald wurde für Ilse zu einem einschneidenden Erlebnis. Die Grauen und Verbrechen, die ihr hier vor Augen geführt wurden, waren sie nicht mit ein Grund dafür, dass sie, Ilse, ihre Heimat verloren hatte? Trugen die Deutschen nicht selbst eine ungeheure Schuld an dem, was sie jetzt erlebten?

Ilse begann ihre Umgebung und das politische Geschehen in der Sowjetzone mit offenen Augen zu sehen. Mit der Gründung der DDR 1949 kam bald auch die FDJ nach Schulpforta. All die Slogans vom Arbeiter- und Bauernstaat, Antifaschismus und Freiheit im Sozialismus, Ilse stand ihnen ablehnend und kritisch gegenüber. Freiheit, bedeutete das nicht, dass man seine Meinung offen sagen durfte?

Marschierte die FDJ auf dem Schulhof auf und warb eindringlich in den oberen Klassen zum Beitritt, daran wollte Ilse nicht beteiligt sein. Vieles erinnerte sie an die Zeit vor 1945, an die  Hitlerjugend in Stolp, das Fahnenschwenken und besinnungslose Mitmachen.  Vor jeder Form von Aufmarsch und Uniform sollte sie Zeit ihres Lebens einen Gräuel haben.

Statt sich im sozialistischen Staat zu engagieren, pflegte Ilse einen privaten Freundeskreis, der sich immer öfter am Nachmittag traf. Sie diskutierten über Politik und die Hitlerjahre, gingen in die Tanzstunde, hörten Frank Sinatra und Bing Crosby, Johannes Heesters und Grete Weisers Hit „Denn in der Nacht, da fallen alle Konsequenzen“. Ein Lied, das Ilse wohl bald recht wörtlich nahm.

Durch ihren Bruder Kurt hörte Elfriede bald, dass ihre Tochter ein ziemlich wildes Leben in Naumburg führte. Inzwischen war Ilse 17 und damit im gleichen Alter, wie Marianne es 1945 gewesen war. Als Ilse in den Sommerferien nach Golzen kam, gab es zwischen den beiden heftigen Streit.

„Du wirst die Schule nicht schaffen, wenn du so ein Lotterleben führst! Was hätte dein Vater dazu gesagt? Du sollst mir gehorchen, ich bin deine Mutter.“

Elfriede versuchte streng durchzugreifen. Innerlich verglich sie die jüngere Tochter mit Marianne, die doch viel sanfter und gefügiger gewesen war.

Als Ilse auf die Reglementierungen ihrer Mutter mit Gelassenheit reagierte, brach es schlieβlich  aus ihr heraus:

„Es wäre besser gewesen, wenn die Russen dich und nicht Marianne mitgenommen hätten!“

Wieder am falschen Ort

Ilse war nach dem Ausbruch ihrer Mutter wortlos abgereist und hatte die Ferien bei einer Freundin verbracht. Im letzten Schuljahr fuhr sie nur selten nach Golzen und lernte stattdessen unermüdlich für die anstehenden Abiturprüfungen.

Ilse wollte Medizin studieren. Schon seit Beginn des Gymnasiums war sie zu dieser Einsicht gekommen und ihre Noten in den naturwissenschaftlichen Fächern bewiesen, dass dies kein unrealistischer Wunschtraum war.

Im Sommer 1951 schloss Ilse die Schule mit einem überdurchschnittlich guten Zeugnis ab, das ihr, so hoffte sie, den Zugang zum Medizinstudium ermöglichen würde.

Die Bewerbungsunterlagen sorgfältig ausgefüllt, ging es aber erstmal zum Ernteeinsatz aufs Land. Wie in der DDR üblich, sollte die Jugend ihr Engagement für den jungen sozialistischen Staat durch Arbeit beweisen und so helfen, den überall spürbaren Mangel an Arbeitskräften zu mindern.

Ilse erhoffte sich wohl auch einige gute Punkte für ihre Kaderakte, und da ihr praktische Arbeit lag, ging sie mit Begeisterung an die Arbeit.

Viele Abiturienten waren auf dem Bauernhof, Ställe mussten ausgemistet, Erdbeeren gepflückt, Kartoffeln ausgegraben werden.

Fast zwei Monate arbeitete Ilse für freie Kost, verbrachte Zeit mit der Bauernfamilie und lernte viel über das Schicksal und Leben anderer Menschen. Fast alle, die sie hier traf, hatten im Krieg Familie verloren. Väter und Brüder  gefallen, Mütter und Schwestern missbraucht, Opfer der alliierten Bombenangriffe, endloses Leid. Wenn sie abends zusammensaβen, erzählten die Jüngeren einander ihre Geschichten. Sie war nicht die Einzige, der Schreckliches widerfahren war.

Körperlich kräftiger geworden, nachdenklich und doch voller Zukunftspläne, kam Ilse im Herbst nach Golzen und erwartete den Bescheid zum Studium.

Doch die Studienplatzvergabe in der DDR richtete sich nicht ausschlieβlich nach den Abiturnoten der Bewerber. Ein fester Klassenstandpunkt, Mitgliedschaft in der FDJ und die soziale Herkunft spielten eine maβgebliche Rolle bei der Auswahl.

Nun waren Ilses Eltern beide Akademiker, der Vater war Ingenieur gewesen, die Mutter Lehrerin. Űber ihre Haltung zum Arbeiter- und Bauernstaat war man sich nach Lektüre ihres  Aufsatzes zur Bedeutung der Arbeiterklasse nicht recht klar geworden. Auf Nachfrage bei Schulpforta wurde die Auskunft erteilt, dass Ilse dem neuen Staat kritisch gegenüberstehe. Nun, bei gleichen Noten wurden die Bewerber mit proletarischem Hintergrund vorgezogen.

 Und so brachte die Post einen Ablehnungsbescheid nach Golzen. Er lag bei den Radestocks auf dem Küchentisch, mit einem offiziellen Stempel und vielen Briefmarken. Ilse hatte schon vor dem Őffnen ein schlechtes Gefühl. Und es dauerte eine Weile bis sie den Inhalt wirklich erfasste.

Ja, da war es wieder. Aus ihrer Heimat waren sie von den Russen vertrieben worden. In der DDR wurde sie als Akademikerkind benachteiligt. Warum war sie nicht in Bayern oder Westfalen geboren worden? Wie anders würde ihr Leben dann verlaufen? Das zweite Mal, nur 19 Jahre alt, fühlte Ilse, dass sie am falschen Ort war und  ihr keine Wahl offenstand. Sie hatte nicht nur ihr Zuhause und Teil ihrer Familie verloren. Sie war eine Vertriebene, ein Mensch, der seine Wurzeln verloren hatte und keine neuen schlagen konnte.

Sieben Jahre Ungewissheit

Jedes Jahr am 3. April stellte meine Groβmutter einen kleinen Blumenstrauβ vor das gerahmte Photo ihrer Tochter Marianne und zündete daneben eine Kerze an. Sieben Jahre waren inzwischen vergangen und Elfriede hatte sich an das Leben in der Fremde gewöhnt.

Sicherlich – Thüringen war anders als Pommern. Die Ostsee fehlte ihr, das Zimmer bei den Bauern war nicht zu vergleichen mit dem Haus, das sie in Stolp bewohnt hatte. Und trotzdem war es ein relativ friedliches Leben, das sie nun führte. Sie unterrichtete ihre kleine Kinderschar, war im Dorf angesehen und hatte Freunde gefunden. Mit Vally stand sie im wöchentlichen Briefkontakt und ihre Geschwister luden sie in den Ferien nach Naumburg und Berlin ein.

Wäre nicht der ewige Streit mit Ilse und die Ungewissheit über den Verbleib Mariannes gewesen, hätte Elfriede nachts ganz gut schlafen können.

Doch in diesem Jahr, 1952, sollte sich das ändern.

Millionen von Menschen hatten sich am Ende des Krieges an das Rote Kreuz gewandt und um Hilfe bei der Suche nach ihren Angehörigen gebeten. Mit unglaublicher Gründlichkeit nahmen die Helfer alle verfügbaren Daten und Kennzeichen der Vermissten auf. Die erstellten Karteien enthielten Fotos, eine Merkmalkarte, Vermerke zu Wohnorten, Fluchtwegen, Bekannten, Schulbesuchen und mehr.

1952 stieß das Rote Kreuz durch Zeugenaussagen von Heimgekehrten auf Marianne. Deutsche Frauen hatten in Russischen Lagern Listen mit Namen von Gestorbenen erstellt und nach Deutschland mitgebracht. Auch wenn nichts Genaues über Mariannes Schicksal bekannt wurde, so galt es nun als sicher, dass sie in einem Arbeitslager in Russland gestorben war.

Elfriede bekam Post vom Roten Kreuz. Wieder lag so ein Brief mit amtlichen Stempeln auf dem Tisch in der Küche, der nichts Gutes verhieβ.

Neben einer kurzen Schilderung der Zeugenaussagen erhielt er eine offizielle Sterbeurkunde, die Folgendes besagte:
‚Die Marianne Hildegard Eggert, wohnhaft in Stolp/Pommern, Schillerstrasse 10, ist im Juli oder August 1945 bei Tscheljabinsk/ Ural im Lager verstorben. Genaue Zeit und genauer Ort des Todes unbekannt. Die Verstorbene war nicht verheiratet.‘

Hier war die Gewissheit, nach der Elfriede so lange verlangt und die sie gleichzeitig gefürchtet hatte. Ihre Tochter hatte drei oder vier Monate Schreckliches erleben müssen, dann war sie durch den Tod entkommen. Auch wenn der Schmerz allumfassend war, der Brief des Roten Kreuzes ermöglichte es Elfriede doch, einen Teil ihres Lebens abzuschlieβen. Ihre Tochter würde fortan in ihren Erinnerungen weiterleben und die Kerze, die  nun oft vor dem Foto Mariannes brannte,  war Zeugnis davon.

An der Saale hellem Strande

Elfriede hatte den Brief des Roten Kreuz auf dem Küchentisch liegengelassen, so dass ihre Tochter ihn finden würde, wenn sie spät abends nach Hause kam. Seit der Absage für das Medizinstudium arbeitete Ilse mal als Kellnerin, im Krankenhaus als Putzkraft oder half bei ihrem Onkel Kurt in der Arztpraxis aus.

Sie war müde, als sie an diesem Abend endlich in Golzen ankam, und den Brief sah sie erst, als sie schon auf dem Weg ins Bett war. Anders als  Elfriede war sich das Kind Ilse seit jener Stunde an der Straβensperre in Stolp sicher gewesen, dass ihre Schwester sterben würde. Deshalb berührte sie die Bestätigung von Mariannes Tod – schwarz auf weiβ – erst einmal nicht besonders.

Erst später wird sich das Lager im Ural, das sie nie gesehen und von dem sie auch keine Vorstellung hatte, in ihre Gedanken und Träume einschleichen. Es wird zu ihrem Begleiter, fast wie ein körperliches Gebrechen, das sie auch in den fröhlichsten Stunden, mit Freunden, nie ganz abschütteln kann. Trotz der Lebensfreude, die sie immer ausstrahlte, machte sie diese unsichtbare Last zu einem ernsten Menschen. Gegenüber ihrer Mutter erwähnte sie den Brief mit keinem Wort.

Mit ihrem Onkel dagegen besprach Ilse bald  die Möglichkeiten einer Berufsausbildung, die zumindest im medizinischen Feld lag. Denn als Aushilfskraft wollte sie nicht weiter arbeiten. Kurt empfahl die Medizinisch Technische Assistentin. An der Fachschule für MTAs in Halle an der Saale konnte man sich zweimal jährlich bewerben. Ohne großen Enthusiasmus schickte Ilse ihre Bewerbung ab. Wenige Wochen später erhielt sie die Zusage zum 1. Februar 1953. Wieder stand ein Umzug bevor.

Halle an der Saale war die einzige Groβstadt in Deutschland, die bei Kriegsende relativ unzerstört geblieben war. Sie hatte sich im April 1945 kampflos den Amerikanern ergeben und die ‚Feigheit vor dem Feind‘ sollte ihren Bewohnern sehr zugute kommen.

Halle war in den 50er Jahren ein Kulturzentrum mit Museen, Varieté, Oper und Theater. In der Innenstadt waren viele geschichtsträchtige Gebäude erhalten geblieben und Ilse fand ein kleines Zimmer zur Miete, das auf die mittelalterliche Stadtmauer blickte und das sie mit einer MTA Schülerin teilte.

Gemeinsam gingen die beiden nun zur Schule und verbrachten die Stunden zuhause meist im Bett. Da es so gut wie kein Heizmaterial gab, mussten sie mit Handschuhen und Mützen bekleidet für ihre Ausbildung lernen. Der Winter war so kalt, dass sich Eis an den Wänden bildete.

Als der Frühling Einzug in Halle hielt, gingen sie auf lange Entdeckungsreisen in die Umgebung und verbrachten die Abende im Theater oder in Kneipen, wo die politische Lage im Land diskutiert wurde.

Die DDR war in einer politisch und wirtschaftlich prekären Situation, die ihre Wurzeln in der sowjetischen Besatzung hatte. Nicht nur war die Versorgungslage mit Nahrungsmitteln und Konsumgütern äuβerst dürftig, politisch sah es fast noch schlechter aus. Alle Parteien waren zu einer Blockpartei zusammengeschlossen, eine freie Presse existierte nicht und infolgedessen verließen mehr und mehr, vor allem junge Menschen, das Land. ‚Abstimmung mit den Füβen‘ wurde das im Volksmund genannt.

Als die Regierung den Kurs eines verschärften Sozialismus verkündete, der unter anderem höhere Abgaben für die Bauern und Normerhöhungen in der Industrie und im Baugewerbe vorsah, kam es zu Unruhen.

Die Sowjetunion aber war nach Stalins Tod und einem Machtwechsel zu Chrustschow mit innenpolitischen Umstrukturierungen beschäftigt und nicht an einem Anziehen der politischen Daumenschrauben in der DDR interessiert.

So wurden einige der verkündeten Maβnahmen von der Regierung Ulbricht am 9. Juni wieder zurückgenommen, die Normerhöhungen für Bauarbeiter wurden jedoch beibehalten.

Doch wie so oft in der Geschichte breiten sich Aufstände meist dann aus, wenn die Menschen eine Schwäche des Regimes wittern.

Im ganzen Land kam es zu Unruhen und Demonstrationen, an denen sich Arbeiter, aber auch Bauern und Mittelschichtler beteiligten. Mit dem Ruf nach freien Wahlen gingen am 17. Juni 60 000 Menschen in Halle auf die Straβe.

Die jungen MTA Schülerinnen sahen am Morgen die ersten Demonstranten an der Schule vorbeiziehen. Um 11 Uhr verkündete ihr Lehrer, plötzlich ohne Parteiabzeichen am Revers,  dass der Unterricht aufgrund der unsicheren Situation geschlossen würde. Nun machte sich ein Trupp von jungen Frauen, auch Ilse, auf den Weg in  Richtung Hallmarkt.

Bei vielen Teilnehmern mag am Anfang Neugierde und Sensationslust dabei gewesen sein. Aber diese Demonstration entwickelte sich bald zu einem massiven Umsturzversuch. Nicht nur drangen die Demonstranten in das Gefängnis ein und befreiten politische Gefangene, sie besetzten auch den Rat des Bezirkes und forderten den Rücktritt der Regierung.

Ilse fand sich auf einmal mitten in einer Gruppe von jungen Revolutionären, die ihre Wut und Frustration mit der politischen Situation herausschrieen. Angst hatte sie nicht, nein, das hier war richtig, sie wollte nicht in einem Land leben, wo man seine Meinung dreimal überdachte, bevor man etwas sagte. Frei wollte sie leben und das auch sagen dürfen!

Bis zum Nachmittag wogte der Demonstrationszug durch Halle, dann begannen Volksarmee und Polizei die Straβen abzuriegeln. Bald schon rückten sowjetische Panzer an, es wurde geschossen und verhaftet. Später verhängte die Regierung den Ausnahmezustand und eine nächtliche Ausgangssperre.

Ilse entkam durch Seitenstraβen, und als sie die Tür ihres Zimmers von innen zuschlug, entlud sich die Angst und Ohnmacht in Tränen. Ein kleines Hoffnungslicht war verloschen, es würde hier nicht besser, sondern schlimmer werden.

Die Pressemitteilungen der kommenden Tage gaben Ilse Recht. Tausende waren im Land verhaftet worden, den Aufstand stellte man als einen Putschversuch des Westens dar. Die Stasi wurde in den kommenden Jahren zu einem mächtigen Űberwachungsapparat.

Ilse beschlieβt in diesen Wochen, die dem 17. Juni folgen, dass sie in diesem Land nicht bleiben wird. Mehr als der Verzicht auf schöne Kleidung und gutes Essen ist ihr die geistige Enge und Beschränkung der DDR ein Maulkorb, den sie nicht zu tragen bereit ist.

Nochmal auf der Flucht

Es war das Jahr 1956.

Ilse hatte nach dem Ausbildungsjahr in Halle ein Praktikum in Thale im Harz absolviert. Danach zog sie nach Ostberlin. An der Charité folgte das dritte Jahr. Sie wurde dort als fertig ausgebildete  MTA übernommen.

Ilse war 23, und in Berlin, ob Ost oder West, pulsierte das Leben. Űberall wurde gebaut, Ruinen wurden abgerissen, im Westen schillerten die Leuchtreklamen von Leiser, dem Kaufhaus des Westens und dem Café Kranzler.

In Ostberlin wurden die monumentalen Häuser an der Stalinallee gebaut und was an Konsumgütern nicht vorhanden war, glich ein breites Kultur- und Theaterleben aus. Ilse genoss die Aufführungen am Schiffbauerdammtheater und Besuche im wiedereröffneten Pergamonmuseum.

Und doch, die politische Eingeschränktheit war überall zu spüren. Die Unterhaltungen mit Kollegen waren immer von einer Vorsicht begleitet, man wusste nie, wer vielleicht Bemerkungen weitergab, die nicht konform waren. Nur im engsten Freundeskreis sprach Ilse offen.

Nach Golzen fuhr sie in diesem Jahr nur selten, aber dafür häufig nach Westberlin. Sowohl Tante Charlotte als auch Elfriedes Bruder Kurt waren in den Westen übergesiedelt. Mit Hilfe des Lastenausgleichs, den die Bundesregierung Vertriebenen zahlte, hatte Kurt bereits eine neue Praxis in Zehlendorf eröffnet.

Wie anders war das Leben hier. Wie viel freier fühlte sie sich, wenn die S-Bahn den Ostteil verlassen hatte und durch die westlichen Bezirke gen Süden zuckelte. Ilse saβ am Fenster und schaute auf eine aufblühende Stadt, sie betrachtete die Menschen im Zug und sah weniger graue, sorgenvolle, ja ängstliche Mienen. Die Gespräche bei ihrem Onkel Kurt drehten sich viel um Politik und immer wieder um die Frage, ob Ilse nicht auch in den Westen kommen sollte.

Im Herbst nahm Ilse Urlaub und besuchte ihre Mutter in Golzen.

„Wollen wir nicht zusammen in den Westen gehen? Du könntest bei Kurt und seiner Frau wohnen und Arbeit suchen. Lehrer werden in Westberlin doch auch gebraucht.“

Elfriede schüttelte bestimmt den Kopf.

„Ich habe einmal alles verloren und hinter mir lassen müssen. Das kann ich nicht noch einmal machen. Im Januar werde ich 60. Ich bin zu alt für einen Neuanfang. Geh du, Ilse. Ich besuche dich, aber meine letzten Jahre als Lehrerin werde ich hier verbringen.“

Ilse verstand ihre Mutter gut, ja, Golzen war eine friedliche Enklave mit einer Gemeinschaft, auf die Elfriede nicht verzichten wollte.

So beschloss sie, alleine in den Westen zu ziehen. Doch völlig unvorbereitet konnte das nicht geschehen. Ilse packte erstmal ihre Zeugnisse in eine Plastikfolie, steckte sie vorne ins Kleid und schmuggelte sie zu Kurt nach Hause. Bewerbungen mussten geschrieben werden.

Die S-Bahnzüge, die von Ost- nach Westberlin fuhren, wurden immer häufiger kontrolliert und wenn man mit Koffern oder Dokumenten geschnappt wurde, die auf einen geplanten Umzug hindeuteten, wurde man zur Befragung mitgenommen. Stellte sich der Verdacht als begründet heraus, hatte das eine Gefängnisstrafe wegen geplanter Republikflucht zur Folge.

So packte Ilse sehr vorsichtig bei jedem Westberlinbesuch ein paar Dinge ihres bescheidenen Besitzes ein. Meist zog sie ein paar Schichten Kleidung übereinander, um sie dann bei Kurt zu lassen. Bücher wurden nur ganz wenige ausgewählt und in der Handtasche mitgenommen. Aber es wurden schon an die zehn Besuche, bis Ilse ihre Habe allmählich im Westen abgeliefert hatte.

Von den Freunden in Ostberlin und in der Charité verabschiedete sich Ilse auf eine ganz besondere Weise. Nur eine wirklich gute Freundin wusste, dass Ilse eine Stelle im Johannesstift in Westberlin gefunden hatte und dort ab dem 1. Dezember 1957 die Arbeit aufnehmen wollte. Ohne jeden Abschied aber wollte sie nicht gehen. So lud sie zu ihrem Geburtstag am 27. November alle Bekannten, viele Arbeitskollegen und die wenigen wirklichen Freunde in das Restaurant Lukullus ein. Ihr letztes Gehalt reichte gerade, um die Rechnung zu begleichen. Es war ein Abend voller fröhlicher Unterhaltungen, und doch fühlte Ilse auch eine groβe Trauer. Wieder musste sie fortgehen. Wieder ein Neuanfang. Würde sie sich im Westen einleben und neue Freunde finden?

Am 29. November 1958 zog Ilse die Haustür der Wohnung zu, in der sie zur Untermiete gewohnt hatte.

Den Schlüssel legte sie auf die Kommode im Flur, ohne Erklärung, die wollte sie später aus Westberlin per Post schicken. Es war ein grauer, nebliger Tag, ein Samstag, und morgens waren nicht viele Menschen auf der Straβe. In der Handtasche hatte Ilse nur die letzten Dinge, ein bisschen Schmuck, ihr Lieblingsbuch, Schiller: ‚Don Carlos’ und einige Briefe, von denen sie sich nicht trennen wollte. Sie ging zum S-Bahnhof Alexanderplatz und zog eine Fahrkarte. Auf dem Bahnsteig standen einige Wartende, fröstelnd die Hände in den Manteltaschen versteckt. Graue Gesichter, ein paar mit Zeitung in der Hand, die sie leeren Blickes durchblätterten.

Ilses Herz klopfte. Hoffentlich sah man ihr die Aufregung nicht an. So oft war sie nach Westberlin gefahren, und doch war es heute anders. Das letzte Mal.

Als der Zug einfuhr, atmete sie erleichtert auf. Sie suchte einen leeren Fensterplatz und lieβ den Blick über die Häuser und Straβen gleiten. Marx-Engels-Platz, wenige Passagiere stiegen zu. Friedrichstraβe, jetzt musste sie umsteigen.

Auf dem unteren Bahnsteig in Richtung Zehlendorf standen Volkspolizisten. Ilse hielt den Atem an. Was sollte sie tun? Umdrehen und wieder zurückfahren? Sie entschied sich erst einmal, den Bahnhof zu verlassen.

Drauβen auf der Friedrichstraβe kaufte sie einen Tee und wärmte ihre Hände an dem Pappbecher. Ihr Herz klopfte noch immer wie wahnsinnig. Sie wartete eine halbe Stunde, dann betrat sie den Bahnhof wieder, zog zur Sicherheit eine neue Fahrkarte und stieg die Treppe zum unteren Bahnhof hinab.

Erleichtert atmete sie auf. Keine Polizei, nur wenige Fahrgäste. Der Zug fuhr schon ein und Ilse bestieg den vordersten Wagon. Noch zwei Stationen im Osten, dann würde sie drüben sein. Unter den Linden, alles blieb ruhig. Als der Zug am Potsdamer Platz einfuhr, sah sie die Volkspolizei. Űber den gesamten Bahnsteig verteilt standen sie da, ja es wimmelte von  grauen Uniformen.

Ilses Herz blieb fast stehen. Jetzt gab es kein Umdrehen mehr, hier musste sie durch. Vier Vopos bestiegen ihren Wagon und begannen, die Reihen auf und ab zu stolzieren. Ilse sah scheinbar unbeteiligt aus dem Fenster. Wie eine kalte Hand hatte sich die Angst um ihr Herz gelegt.

Da war sie wieder. Die Straβensperre an der Chausee von Stolpmünde. Das Näherrücken, langsam, bis zu dem unerbittlichen Moment, als sie vor dem russischen Soldaten standen. Klar wie auf einem Foto sah sie alles vor sich. Noch einmal gefasst werden? Diesmal sie?

Hinter ihr hörte sie jetzt laute Stimmen. Ilse drehte sich um. Ein älterer Mann wurde nach seinem Reiseziel befragt. In seiner offenen Reisetasche wühlten die Vopos zwischen Kleidung. Genaues konnte sie nicht sehen. Jetzt hatten sich alle vier Vopos um den Mann versammelt.

Der Zug wurde langsamer und fuhr in den Anhalter Bahnhof ein. Ohne sich noch einmal umzusehen, nahm Ilse die Handtasche. Sie öffnete die Tür. Fast schwankend vor Anspannung setzte sie den Fuβ auf den Bahnsteig.  Sie war in Westberlin.

Mit schnellen Schritten lief sie zur Treppe. Als sie die oberen Stufen erreichte, sah sie die Sonne durch die Wolken kommen.

 Teil 3: Tränen, nie vergossen

Im Sommer 1975 war ich 14 Jahre alt. Ilse hatte bald nach ihrer Übersiedlung in den Westteil Berlins geheiratet und zwei Kinder bekommen. Nachdem mein Vater sein Geschäft durch einen Brand verloren hatte, arbeitete sie wieder halbtags. Elfriede, meine Groβmutter, war nach ihrer Pensionierung 1963 ebenfalls in den Westen übergesiedelt, um in der Nähe ihrer Tochter und Enkelkinder zu sein.

Wir lebten in einem kleinen Haus in Zehlendorf, ein recht unspektakuläres Leben, finanziell nicht gut situiert, aber doch genug, um ein normales Leben zu bestreiten.

Seit meinem 12. Lebensjahr war ich eine begeisterte Ruderin und verbrachte die meisten Nachmittage in der Woche auf dem Wannsee und den Kanälen.

Meine Mutter Ilse war im Frühling 1975 ebenfalls dem Klub beigetreten und ruderte nun im Altdamenvierer jeden Sonntag mal Richtung Pfaueninsel, mal zum Griebnitzsee.

Die Besatzung des Vierers bestand bald aus den immer gleichen Frauen unterschiedlichen Alters und während der Ruhepausen kamen sie ins Gespräch. Gleich hinter Ilse saβ Helga, etwas älter als meine Mutter, Ende 40. Helga war eine stille Frau, deren Augen man durch die dicken Brillengläser kaum sehen konnte. Sie wirkte freundlich und doch sehr verschlossen. So dauerte es lange, bis sie sich an den Gesprächen beteiligte.

Eines Sonntags erzählte Ilse von Pommern, von Stolp, der Flucht und auch, dass ihre Schwester von der Roten Armee verschleppt und im Lager gestorben war. Die Ruderinnen waren am Ende sehr still, erschüttert von dem, was sie da gehört hatten.  Nur Helgas leise Stimme war plötzlich zu hören:

„Wie hieβ deine Schwester? Weiβt du, in welches Lager sie gebracht wurde?“

Es mag wie eine Erfindung klingen und doch ist es wirklich passiert. Helga war mit Marianne Eggert im selben Arbeitslager im Ural gewesen.

Meine Mutter konnte es kaum fassen. Nur mit Mühe beendeten die Vier ihre Ruderpartie und Helga und Ilse saβen danach viele Stunden im Klubhaus.

Helga kam aus Ostpreußen und hatte sich mit ihrer Familie noch vor dem russischen Einmarsch auf die Flucht begeben. Als sie von der Roten Armee überrollt wurden, hatte man sie verhaftet und zusammen mit unzähligen anderen Mädchen und jungen Frauen in den Ural gebracht.

Als Marianne dort ankam, hatte Helga schon Wochen voller Entbehrungen und Grausamkeiten hinter sich. Von schwerster Arbeit, geringsten Essensrationen, Vergewaltigungen, Ungeziefer, Kälte und  Erniedrigung erzählte sie. Von Zuhause christlich erzogen, wurde der Glaube für Helga der Pfeiler ihres Űberlebenswillens. Er lieβ sie auch die Geburt eines Kindes überstehen, das von den Aufsehern an die Wand geworfen wurde, bis es tot war.

Marianne aber war noch jünger, ohne starken Willen, sie verfügte nicht über einen derartigen Halt. Nach wenigen Wochen war sie gebrochen, krank, und verweigerte seit Ende Juni jede Nahrungsaufnahme. Ihr Tod war eine Erlösung, die sie gewollt herbeiführte.

Wenige Frauen hatten wie Helga die geistige Stärke das Leben im russischen Lager zu überstehen. Von den 1944/45 ca. 500 000 verschleppten Deutschen, die als lebende Reparationen Zwangsarbeit in sowjetischen Lagern leisten mussten, sind nur ca. 16 %  zurückgekommen, die Letzten 1955, zehn Jahre nach dem Ende des Krieges.

Die Erlebnisse im Krieg werden oft als ein kollektives Trauma beschrieben. Trauma wird erklärt als eine überwältigende und lebensbedrohliche Erfahrung, die auβerhalb unseres normalen Erfahrungsbereiches liegt und oft mit dem Gefühl des Ausgeliefertseins einhergeht.

Unsere normale Stressverarbeitung kann mit einem solchen Erlebnis nicht umgehen und die seelischen Schmerzen, die es verursacht, werden vom Gehirn abgespalten. Die Erinnerung an das Trauma ist deshalb oft nur noch teilweise zugänglich oder kann sogar völlig verdrängt werden.

Das Wiederbeleben des Traumas, etwa durch eine erneute Fluchtsituation oder das Treffen Ilses mit Helga, führt zu einem Flashback, dem erneuten Durchleben des Traumas.

Die psychischen Folgen können vielseitig sein. Schuldgefühle, überlebt zu haben, Unfähigkeit, Gefühle für andere zu empfinden sind mögliche Konsequenzen eines nicht verarbeiteten Traumas.

Heute, im Jahr 2020, steht uns eine Vielfalt psychologischer Hilfen zur Verfügung. Mentale Gesundheit wird als ein integraler Bestandteil menschlichen Wohlbefindens angesehen und für nicht weniger wichtig als körperliche Gesundheit befunden.

Ehepaare besuchen eine Paartherapie, wenn sie Probleme haben, Jugendliche mit Essstörungen treffen wöchentlich ihren Psychologen. Mein jüngster Sohn, der adoptiert ist, hat bereits mit acht Jahren eine Kinderpsychologin aufgesucht, die ihm half, den Schmerz des Nichtgewolltseins zu bearbeiten.

Selbst in Südafrika, wo ich lebe, werden Psychologen in Schulen geschickt, die Űberfällen oder anderen Arten von Gewaltübergriffen ausgesetzt waren. Sie bieten den Kindern Traumaberatung an. Es gibt ein Krisenzentrum für Vergewaltigungsopfer und die Berufsorientierung wird mit Hilfe eines Schulpsychologen diskutiert.

Psychologie ist ein fester Bestandteil unseres Lebens geworden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg aber war das ganz anders. Psychologischer Beistand existierte kaum, die geistige Gesundheit bestritt eine Randexistenz, und noch in den 70er Jahren galt es bei Vielen als ungewöhnlich, zum Psychologen zu gehen.

Und doch gab es Millionen von Menschen, die aufgrund der erlebten Traumata dringend psychologische Hilfe gebraucht hätten.

Manche versuchten sich selbst zu helfen.

Frauen, mehr als Männer, sprachen mit anderen Betroffenen über die Vergangenheit, so wie man sich heute in einer Selbsthilfegruppe trifft und gleichgeartete Probleme austauscht. Das hat einen tröstenden, nicht aber einen heilenden Effekt.

Viele Menschen aber, vor allem Männer, die im Krieg gewesen waren, haben die schrecklichen Erlebnisse verdrängt und sie wie einen Fremdkörper in sich eingeschlossen.

Als meine Mutter Ilse von dem Treffen mit Helga nach Hause kam, ging eine bemerkenswerte Veränderung mit ihr vor sich.

Schon als wir noch klein gewesen waren, hatten wir von Stolp in Pommern gehört. Jetzt aber sprudelten die Erlebnisse und Begebenheiten aus meiner Mutter heraus, wie aus einer Quelle, die nach langer Dürre endlich wieder Wasser führt. Helgas Berichte hatten wie ein Trigger auf sie gewirkt, die Erinnerungen drängten an die Oberfläche.

Fast alles, was ich über das Leben von Ilse weiβ, hat sie in jenen Monaten im Herbst 1975 erzählt. Sie holte nicht nur die Fotoalben von ihrer Mutter, um ihre Berichte zu illustrieren, sie sang das Pommernlied, russische Lieder aus der Schulzeit und kochte pommersche Gerichte. Schließlich fuhr sie mit uns im Sommer 1976 nach Polen, damit wir ihre alte Heimat kennenlernten.

Um diesen Besuch vorzubereiten, belegte sie bei der Volkshochschule einen Polnischkurs und übte beim Mittagessen polnische Vokabeln.

Es war so etwas wie eine Selbsttherapie, was sie da betrieb. Für mich als Kind war es eine Űberwältigung, ja es hatte fast auch eine traumatische Komponente.

Solange wir Kinder sind und oft solange unsere Eltern leben, sehen wir die Menschen, die uns in die Welt gesetzt haben, meist nur in ihrer Rolle als unsere Eltern. Wir wollen geliebt werden, versorgt sein, sie sollen uns gerecht behandeln. Ansonsten aber wollen wir bitte mit den Problemen, die der Mensch Mutter oder Vater hat,  in Ruhe gelassen werden.

So habe ich auf den Einsturm dieser Erinnerungen meiner Mutter damit reagiert, sie zwar abzuspeichern, mich aber in den kommenden 15 Jahren kaum an sie zu erinnern.

1985 starb Ilse mit 51 Jahren an Krebs. In ihren letzten Stunden im Krankenhaus zerkratzte sie ihr Gesicht und raufte sich die Haare. Es wirkte, als wenn sie all ihre Traumata noch einmal durchlebte. Vielleicht war es wirklich die Straβensperre, die Flucht, all das, was sie auf dem Weg hatte mit ansehen müssen, was in ihrem Inneren in Bildern und Gefühlen wieder hervorkam, bevor sie starb.

Viele Jahre sind seitdem vergangen und immer häufiger fielen mir Bruchstücke von den Erzählungen meiner Mutter wieder ein. Erst dann, als ich Ilse als Ilse sah, konnte ich mir klar machen, dass diese Frau ein tragisches, trauriges und kurzes Leben gelebt hat. 

Ich konnte sie schätzen lernen für ihre Haltung.

Pommern war nun Polen, Heimatvertriebenenverbände fand Ilse revisionistisch. Wenn man nach Polen reiste und dort freundlich aufgenommen werden wollte, dann sprach man dort nicht Deutsch, sondern radebrechte auf Polnisch. Das tat sie, um ihren guten Willen zu zeigen und um ein Versöhnungszeichen zu setzen.

Auch die Anerkennung deutscher Schuld ist ein wichtiger Teil meiner Erziehung gewesen.

Sie konnte mir leidtun, wegen ihrer emotionalen Probleme.

Manchmal schloss meine Mutter sich im Bad ein, um sich, wie sie laut verkündete, umzubringen.

Im Urlaub fuhren wir immer ans Meer, und Ilse schwamm oft so weit hinaus, dass Rettungsschwimmer sie einige Male mit einem Boot zurückholten. Fast so, als wollte sie nach Pommern, nach Hause, schwimmen.

Einmal sagte sie im Streit zu mir, dass man eben ein Kind mehr liebt als das andere. Damals hat mir das sehr wehgetan. Jetzt glaube ich, dass es von der Bemerkung ihrer eigenen Mutter herrührte, die Russen hätten doch lieber sie mitnehmen sollen. Eins von den vielen  Erlebnissen, die sie nicht hatte verarbeiten können.

Heute finde ich, dass es  wichtig für mich ist,  Kenntnis über das Leben meiner Mutter zu haben. Es hilft mir, meine eigene Kindheit besser zu verstehen. Ilses groβes Mitteilungsbedürfnis in Bezug auf die Vergangenheit hat mir dieses Wissen quasi in den Schoβ gelegt. Relativ wenige Menschen haben so offen mit ihren Kindern über ihre Kriegserlebnisse gesprochen.

Wenn man noch Eltern hat, kann man sie befragen. Wenn man ihr Schicksal kennt, lernt man sie von einem neuen Blickwinkel kennen. Dann kann man sie als Menschen sehen, die Schlimmes erlebt haben und vieles davon in sich selbst vergraben mussten. Das taten sie nicht aus bösem Willen, sondern aus Mangel an Hilfe und Unwissenheit darüber, wie man mit einem Trauma umgeht und davon genesen kann.

Wir als nachkommende Generation haben oft unter unseren Eltern gelitten.

Viele von uns haben ihre Eltern als wenig liebevoll erlebt. Sie haben uns zwar materiell versorgt, aber keine wirkliche Nähe mit uns aufgebaut. Der Mangel an Freizügigkeit, Verständnis, sexueller Aufklärung und emotionaler Zuwendung sind Probleme, die die Kindheit vieler Menschen meiner Generation geprägt haben.

Wenn ich über meine Jugend nachdenke und sie mit der meiner eigenen Kinder vergleiche, hat mir vor allem Offenheit in der Beziehung zu meinen Eltern gefehlt.

Vieles wurde vor uns Kindern verheimlicht. Materielle Probleme wurden uns nicht erklärt, wir zogen nur plötzlich in ein kleineres Haus.

Alles im Zusammenhang mit Sex war ein peinliches Tabu. Als ‚Aufklärung‘ legte man uns ein Buch auf den Nachtisch mit dem schönen Titel ‚Woher kommen die kleinen Buben und Mädchen‘.

Jedem Streit folgte ein strafendes Schweigen, das sich über mehrere Tage hinziehen konnte.

Viele Dinge, die wichtig für mich waren, habe ich im Gegenzug zu der Verschwiegenheit meiner Eltern auch  vor ihnen verheimlicht.

Es war ein distanziertes Verhältnis, von beiden Seiten von Unverständnis geprägt. Obwohl meine Mutter vom Krieg erzählte, konnte ich als Kind nicht verstehen, warum sie offenbar emotional geschädigt war.

Sie als Kriegsüberlebende konnte sich ebenso wenig in unsere Welt hineinversetzen. Unsere Sorgen konnte sie nicht als wirkliche Sorgen identifizieren.

Aus meiner heutigen Sicht ist das durchaus verständlich, weil ich sie jetzt vor dem Hintergrund ihrer Lebenserfahrung beurteile.

Wenn man kaum genug anzuziehen hatte, mag das Gequengel der 13-jährigen Tochter nach neuen Jeans  unwichtig erscheinen.

Wenn man gehungert hat, kann man seine eigenen Kinder unerträglich finden, wenn sie den Milchreis nicht essen wollen.

Wenn man Lebensangst ausgestanden hat, mag einem die Angst vor dem dunklen Schlafzimmer als irrelevant erscheinen.

Wenn man durch solche Traumata gegangen ist wie meine Mutter und so viele andere in ihrer Generation, hat man kaum das Rüstzeug, um verständnisvoll zu sein, auch deshalb nicht, weil man über keine innere Balance verfügt.

Diese Verständnislosigkeit muss nicht in dem platten Sinne – Ihr verwöhnten Wohlstandskinder, ihr hättet mal einen Krieg erleben müssen –  gemeint gewesen sein.

Meine Mutter hat ihren Kindern sicherlich nicht ein Kriegserlebnis gewünscht. Trotzdem mussten ihr unsere Probleme vor dem Hintergrund ihrer eigenen Kindheit oft belanglos erscheinen.

In vieler Hinsicht ist das natürlich immer ein Problem zwischen Eltern und Kindern, es ist das, was man als Generationenkonflikt bezeichnet.

Der Unterschied zum typischen Generationenkonflikt scheint mir darin zu bestehen, dass Lichtjahre zwischen dem Erlebten der Kriegsgeneration und unserer Welt lagen.

Ich habe ganz Ähnliches an mir selbst bemerkt. Seit 15 Jahren lebe ich in Südafrika, eine der sozial gegensätzlichsten Gesellschaften dieser Welt. Wenn ich nach Deutschland zu Besuch komme, verstehe ich Vieles nicht mehr. Meine Erfahrungswelt unterscheidet sich zu sehr von dem, was  in Deutschland vor sich geht. In vieler Hinsicht bin ich ein Auβenstehender. Manches, was in Deutschland als Problem gesehen wird, scheint mir irrelevant. Lebe ich doch in einer Welt, die mit existentiellen Missständen geradezu gepflastert ist.

Ansatzweise spiegelt das genau das Problem der Elternkriegsgeneration wieder, nur war der Unterschied im Erlebten um so vieles signifikanter.

Natürlich dürfen nicht alle Fehler und Missgriffe unserer Elterngeneration mit dem Kriegserlebnis gerechtfertigt und erklärt werden.

Die Erzählung vom Leben meiner Mutter soll nur ein Versuch sein, für mehr Verständnis zu werben. Wir sollten milde sein im Urteil über das Unvermögen unserer Eltern. Viele von ihnen  haben in der Tat Schreckliches erlebt.

Auch lohnt es sich, darüber nachzudenken, wie solche Erlebnisse uns wohl selber als Menschen  geprägt hätten.

Brecht appelliert an uns, wir sollten gedenken der Flut, in der seine Generation untergegangen ist und  der wir entronnen sind.

Ja, wir sollen von ihren Schwächen sprechen, wir sollen nicht vergessen.

Gedenken im Zusammenhang mit unseren Eltern kann bedeuten, sich zu erinnern, versuchen zu verstehen, nicht zu verurteilen.  Nachsichtig zu sein.

Erwarten wir das nicht genauso von unseren Kindern im Umgang mit unserer eigenen Unvollkommenheit?

Das kleine Gemälde vom Ostseestrand in Stolpmünde hing immer über dem Bett meiner Mutter. Heute hat es einen Platz über dem Schreibtisch meines Bruders.

Heute liegt der Strand in Polen und der Ort heiβt Ustka. Er lohnt eine Reise.

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Triegel trifft Cranach – Der Bildersturm des Weltdenkmalrats Icomos

Am vergangenen Sonntag war die vorläufig letzte Gelegenheit, im Naumburger Dom die wunderbare Wiederauferstehung des in den Reformationswirren vor 500 Jahren zerstörten

Cranach-Altars durch den Erfurter Künstler Michael Triegel zu bewundern. Zahlreiche Besucher machten davon Gebrauch. Während der halben Stunde, die ich vor dem Altar stand, sind etwa fünfzig Menschen mit mir da gewesen. Wir standen nicht nur gebannt davor, sondern gingen mehrmals um den Altar herum, um jedes Detail zu bewundern. Die Arbeit von Triegel ist wirklich kongenial. Es ist, als reichten sich die Jahrhunderte die Hand.

Wir kamen untereinander ins Gespräch und waren uns einig: Cranach hätte die Ergänzung seines Werkes gebilligt. Eine Gegenstimme habe ich nicht vernommen.

Aber unter den „Experten“ oder auch Triegels Kollegen rief das die Neider auf den Plan. Icomos machte sich zur Stimme der Neider. Die Argumente, die es in den Raum warf, das Kunstwerk beeinträchtige die „äußerst sensiblen Blickbeziehungen im Westchor“, ist mehr als dürftig. Jeder, der dort gewesen ist sieht, wie an den Haaren herbeigezogen diese Behauptung ist. Uta blickt völlig frei auf den Altar. Regelindis lächelt ihm gar zu.

Der Cranach – Altar wurde in einer Zeit aufgestellt, die viel mehr von Schönheit und Harmonie verstand als wir heute.

Icomos war anscheinend selbst klar, auf welch schwachen Füßen sein Argument steht und des halb warf es ohne jeden Beleg eine drohende mögliche Aberkennung des Welterbetitels für den Dom in den Raum. Das gab dann für die Politik offensichtlich den Ausschlag, von dem Projekt, das u.a. auch von der Landesregierung Sachsen-Anhalt unterstützt worden war, feige abzurücken.

Kulturminster Reiner Robra spielte da eine besonders peinliche Rolle. Er fiel öffentlich um, stützte Icomos Behauptungen und verlieh ihnen damit erst Glaubwürdigkeit.  Die Landesregierung verkürzte eilfertig die Ausstellungszeit von drei Jahren auf wenige Monate. Ausgerechnet in der Adventszeit ist der Altar jetzt abgebaut worden.

Kurz vorher versuchten die Domstiftung noch mit den Gegnern des Triegel-Altars auf einer Tagung ins Gespräch zu kommen. Die kniffen aber allesamt.

Minister Robra bleib fern mit der absurden Begründung, es handele sich um keine politische Frage, also müsste er nicht Stellung nehmen. Hat er gedacht, dass die Öffentlichkeit vergessen hat, dass er sich bereits als Politiker geäußert und gehandelt hatte, oder war es ihm egal? Auch der Icomos-Mann, der die Debatte losgetreten hatte, erschien nicht. Er wäre auch mit Pauken und Trompeten untergegangen,

Zuvor war bekannt geworden, dass der Professor für Denkmalpflege und Icomos-Experte Achim Hubel zurückwies, dass es zu einer Aberkennung des 2018 verliehenen Welterbetitels käme, falls der Altaraufsatz nicht abgebaut würde.

Das Schlimmste, was passieren könnte, wäre ein Eintrag in die „Rote Liste“ des gefährdeten Welterbes. Da müsste erst nachgewiesen werden, dass der Altar eine Gefährdung darstellt.

In diesem Falle müsste mit der Unesco verhandelt werden, wie man die Aberkennung des Titels verhindern könnte – ein Prozess, der sich normalerweise über Jahre hinwegzieht.

Hubel ist aber der Meinung, dass er sich „die Keule der Roten Liste überhaupt nicht vorstellen kann“.

Weil der drohende Verlust des Welterbetitels auch ein unsicheres Argument ist, wurde noch nachgeschoben, dass der Altar angeblich nie im Westchor gestanden hätte. Diese Behauptung ist ebenso aus der Luft gegriffen, wie die beiden anderen.

Der Triegel-Altar nimmt auf subtile Weise Bezug auf die Stifterfiguren. Der Naumburger Meister schuf mit seinen zwölf Stifterfiguren, konzipiert für die Architektur des Westchors, einen geschlossenen Zyklus, der nach Thema und Aufstellungsort in der europäischen Kunst etwas völlig Neues bedeutete. Die in Lebensgröße abgebildeten Figuren sind Idealvorstellungen von Personen, die seit zweihundert Jahren verstorben waren, aber in moderner Kleidung abgebildet wurden.

Auch Triegels Figuren, besonders die hinter dem Vorhang im Rücken von Maria, sind ganz zeitgenössisch, Ein Gesicht trägt nach meinem Empfinden die Züge Dietrich Bonhoeffers. Insofern ergänzen sich Stifterfiguren und Altar.

Der große, sogar verhängnisvolle Fehler der Altargegner ist, dass sie verkennen, dass Leben Veränderung bedeutet, einen bestimmten Zustand fixieren zu wollen, ist nicht nur lebensfremd, sondern lebensfeindlich. Kirche ist ein lebendiger Ort und muss es bleiben. Das darf nicht dadurch konterkariert werden, dass beim Denkmalsschutz allzu oft persönlich Ansichten manifestiert werden, die diesem lebendigen Prozess entgegenstehen.

Der Willen der Domstifter, der Zerstörung nicht das letzte Wort zu lassen, ist dagegen zu unterstützen. Bei Triegel ist er auf der Rückseite des Altars ins Bild gesetzt.

Der triumphierende Jesus, umflattert von Schmetterlingen, den Urbildern der Schönheit, ist ein starkes Symbol der Stärke des Glaubens und der Hoffnung auf die Wiedergeburt des Lebens.

Das ist genau das, was wir heute brauchen. Triegel muss seinen rechtmäßigen dauerhaften Platz im Dom erhalten!

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Impressionen aus dem Latium 2

Unsere nächste Station, die kleine Stadt Palestrina, war schon eine blühende Gemeinde, bevor Rom gegründet wurde. Sie ist ein lohnendes Ziel für Kultur- und Naturliebhaber. Bereits von weitem sieht man das terrassenförmig angelegte antike Heiligtum der Fortuna Primigenia am steilen Monte Ginestro.  Auf dessen oberster Ebene befindet sich heute der Palast Barberini, in dem sich das Nationale Archäologische Museum befindet, wegen dem die meisten Besucher nach Palestrina kommen. Zum Palast führen amphitheaterartige Stufen, von denen man eine atemberaubende Aussicht auf das Land hat. Wenn der Betrachter aber nur oben bleibt, entgeht ihm das großartige Ausmaß der Anlage des Heiligtums. Man muss es von unten sehen. Jahrhundertelang war die Anlage überbaut. Im Mittelalter war sie fast komplett von Wohnhäusern bedeckt und geriet in Vergessenheit. Erst durch von Bombardierungen im 2. Weltkrieg verursachten schweren Schäden kam das Heiligtum unter den Trümmern zum Vorschein. Die Stadt fasste den beherzten Entschluss, Grabungen zu veranlassen und die Fundstücke in einem Museum zu präsentieren, das bereits Mitte der 50er Jahre eröffnet wurde. Es erlangte schnell überregionale Bedeutung. Der Höhepunkt der Schau ist das so genannte Nilmosaik, eine wunderbar feine Arbeit, deren Bilderreichtum erstaunt. Von Äthiopien bis zum Nildelta erstreckt sich die Erzählung, die bis heute nicht ganz entschlüsselt ist.

Aber auch alle anderen Ausstellungsstücke zeugen vom Reichtum, der Eleganz und dem Kunstverstand der vorrömischen Bewohner. Über 120 Adelsfamilien waren in Palestrina beheimatet. Nach der römischen Eroberung durch Sulla wurden 80 von ihnen vollkommen ausgelöscht.

Wer bei Palestrina an den Komponisten gleichen Namens denkt, hat recht. Er nannte sich nach seiner Heimatstadt. Sein Geburtshaus kann man besichtigen. Es beherbergt ein kleines ihm gewidmetes Museum. Zwischen 1895 und 1897 haben Thomas und Heinrich Mann mehrere Monate in Palestrina gelebt. Hier fing Thomas Mann an, die Buddenbrooks zu schreiben. Die Straße, in der er Quartier nahm, ist heute nach ihm benannt.

Weiter geht es nach Tivoli, die Stadt, die als Mutter aller Vergnügungsparks gilt.

Als Erster errichtete Kaiser Hadrian eine ausgedehnte Anlage, die Villa Adriana, als Sommerresidenz. Die können wir leider nicht sehen, denn sie ist wegen Personalmangels nicht zugänglich. Ein Problem, das uns immer wieder begegnet, besonders bei staatlich betriebenen Einrichtungen. Es soll eine prachtvolle Palast- und Gartenanlage u. a. mit künstlichen Seen, Wasserspielen und Theatern sein.

Auch im Mittelalter war Tivoli einer der wichtigsten Orte in der Umgebung von Rom. Mitte des 16. Jahrhunderts erbauter der italienische Maler, Antiquar, Architekt und Gartenarchitekt des Manierismus Pirro Ligorio für Kardinal Ippolito d`Este eine Gartenanlage mit über hundert Wasserspielen, -fällen und Fontänen. Um die zu speisen wurde ein Fluss umgeleitet.

Es ist eine Demonstration von Reichtum und Macht, die fast obszön ist. Dazu passt, dass in einer Sonderausstellung in der Villa Leni Riefenstahl mit Ausschnitten ihres Olympiafilms zu sehen ist. Es geht um den Körperkult, der durch die Jahrhunderte betrieben wurde, eben auch von den Nationalsozialisten.

Natürlich genieße ich die Kühle, die durch das allüberall sprudelnde Wasser erzeugt wird, denn wir haben wieder 30° C und Sonne, aber insgesamt lässt mich das Schauspiel eher kalt. Ich empfinde aber Genugtuung bei dem Gedanken, dass wir heute alle, die der Kardinal als gemeines Volk betrachtet hätte, seine Hinterlassenschaften genießen können.

Am nächsten Tag steht wieder ein Kardinalspalast auf dem Programm. Diesmal ist es der Farnesepalast in Caprarola, wegen seiner fast vollständigen Ausmalung mit Fresken.

Einer der bedeutendsten Paläste der Renaissance und des Manierismus befindet sich am Südostabhang der Monte Cimini, einem dicht bewaldeten vulkanischen Hügel. Ursprünglich ließ Kardinal Alessandro Farnese, der spätere Papst Paul III, ab 1520 von Antonio da Sagnello dem Jüngeren hier eine Festung über einem fünfseitigen Fundament errichten. Die Anlage war so raffiniert, dass sie sogar eine Art Tiefgarage für Kutschen erhielt. Die Bauarbeiten wurden gestoppt, als Alessandro 1534 zum Papst gewählt wurde und erst zehn Jahre nach seinem Tod 1559 wieder aufgenommen.

Auftraggeber und Bauherr war nun sein Enkel, der gleichnamige Kardinal Alessandro Farnese, genannt „il Gran Cardinale“ (der Große Kardinal). Weil sich der Ort auch als Sommerfrische eignete, entschied er sich, die Festung zu einem Residenzpalast umzubauen.  Er tat das auch deshalb, weil ihm von seinen Ärzten zu häufigen Aufenthalten in gesunder Luft geraten wurde.

Wer den Palast betritt, dem wird schnell klar, warum Allessandro der Große genannt wurde. Hier ist alles groß: Das Gemäuer, die Säle, die Privaträume, die Malereien. Dem Mann scheint seine Bedeutung zu Kopf gestiegen zu sein, denn er verglich sich selbst mit Herkules, der wiederholt als Motiv in den Fresken auftaucht.

Die oberen Räume werden durch spiralförmige Treppen erreicht, deren wichtigste, die Königstreppe, von atemberaubender Schönheit ist. Der Besucher möchte instinktiv verweilen, um die Pracht zu genießen, wird aber durch ein Schild ermahnt, nicht stehen zu bleiben. Zum Glück gibt es außer uns keine Besucher, so dass wir das Gebot missachten können, ohne einen Touristenstau zu verursachen.

Im Arbeitszimmer umgab sich der Kardinal mit den Abbildern von antiken Philosophen. Die Zeitgenossen, wie Pico della Mirandola scheint er nicht so geschätzt zu haben.

Immerhin wird der Bibliothekar abgebildet, der die Erzählungen für die Fresken geschrieben hat, mit dem dicken Band seiner Niederschriften in der Hand.

In seinem Schlafzimmer feierten die Gemälde die Fleischeslust, auch mit pornografischen Abbildungen.

Die Fresken stellen ein einzigartiges Zeugnis manieristischer Kunst dar. Unter der Leitung der Brüder Taddeo und Federico arbeitete eine ganze Schar von Künstlern daran. Die Basis des Dekors besteht aus Groteskenmalerei, wie sie zu Beginn des 16. Jahrhunderts von Raffael nach antiken Vorbildern neu erfunden worden war. In die Grotesken sind mythologische, allegorische, biblische und historische Szenen eingearbeitet.

Trotz der hohen Kunstfertigkeit fühle ich mich nach einer Stunde wie erschlagen und frage mich, wie man hier leben konnte. Hat man das irgendwann nicht mehr gesehen, oder gewöhnte man sich daran, wie der moderne Mensch an eine grellbunte Tapete?

Ich atmete jedenfalls auf, als ich den Ausgang zum Garten erreichte, der als Landschaftspark angelegt ist. Unter den hohen Pinien ließ es sich gut spazieren. Es ging sanft bergauf, in der Ferne war ein Gartenhaus auszumachen, zu dem eine Wassertreppe führte. Diese Anlage beeindruckte mich mehr als die hunderten der Villa d´Este. Stieg man hinauf und umrundete das Gebäude, öffnete sich ein neuer Raum, bekränzt von schlanken Säulen. Diesen Blick hatte Prince Charles, als er hier als Gast der italienischen Regierung übernachtete. Wir bekamen diese Information just an dem Tag, als aus dem Prinzen nach 70 Jahren Warten endlich ein König wurde.

Der Kardinal Alessandro mag ein schlimmer Finger gewesen sein, aber er hat viel Schönheit hinterlassen, die heute nicht nur seiner Royal Highness, sondern allen zur Verfügung steht.

Das Gegenstück zu den Palästen und ihren Gärten ist der „Heilige Wald“, ein Skulpturenpark, den Vicino Orisini, letzter Feudalherr von Bomarzo, Dissident und Philosoph, in der Mitte des 16. Jahrhunderts in mehr als 30 Jahren anlegen ließ. Er widmete ihn seiner 1564 verstorbenen Frau Giulia Farnese, deren Tod er anscheinend nie verwunden hat. Die Anlage ist einmalig und gibt bis heute Rätsel auf.

Durch einen Obstgarten gelangt der Besucher über einen Bach, der sich durch das Tal des Sacro Bosco schlängelt, in den Heiligen Wald.

Die über 30 Skulpturen und architektonischen Kompositionen aus dem lokal reichlich vorhandenen Peperin-Gestein vulkanischen Ursprungs stehen auf einem etwa 2 km² großen Areal. Neben Monumentalskulpturen, kämpfende Giganten, Frauengestalt auf Schildkröte, Nymphen und Brunnen, gibt es ein kleines Theater im griechischen Stil, ein schiefes Haus und eine von griechischen Vasen umgebene Terrasse, um die sich weitere Monumentalplastiken gruppieren: Neptun, ein Delfin, eine schlafende Frau, ein Drache, Ceres und ein Elefant.

Was diese Figuren bedeuten, was Orsini seinen Besuchern damit sagen will, darüber streiten sich die Gelehrten bis heute. Mir fiel auf, dass die Säulen, die ich vor wenigen Stunden im Park des Farnesepalastes gesehen hatte, hier auch stehen und wie eine Karikatur der Originale wirken. Will sich Orsini über seine prunksüchtigen Zeitgenossen lustig machen, ihnen den Spiegel vorhalten. Und was bedeuten die verschobenen Perspektiven des schiefen Hauses?

Schaurig wird es beim Rachen de Orcus durch den man in eine finstere Kammer steigen kann, in der ich sofort Platzangst bekomme. Wieder draußen quert man eine Freifläche mit einer monumentalen griechischen Vase in der Mitte; vorbei an einer so genannten „etruskischen Sitzbank“ und gelangt zu einer weiteren Terrasse begrenzt von steinernen Pinienzapfen und Eicheln. Auch diese Terrasse ist mit Skulpturen umgeben, dem mehrköpfigen Höllenhund Cerberus, zwei Furien, zwei Bären mit dem Familienwappen der Orsini, Löwen und Sirenen.  

Nach dem Tod von Orsini kümmerte sich Niemand um die Anlage, sie wuchs zu. Aber ihr Ruf blieb offenbar lebendig, denn Goethe war hier und kämpfte sich durch das Dickicht zu den Figuren durch. Wenn er Tiefgründiges dazu geäußert haben sollte, ist mir das wenigstens nicht bekannt.

Mitte des 20. Jahrhunderts wurden die verwitterten und völlig zugewachsenen Skulpturen wiederentdeckt. Salvador Dali war 1938 einer der ersten prominenten Besucher des Parks. Er scheint ihn inspiriert zu haben, denn einige seiner Motive verarbeitete er offensichtlich in seinem Gemälde Die Versuchung des Heiligen Antonius von 1946. Im Jahr 1954 erwarben Giancarlo Bettini († 30. Juli 1997) und seine Frau Tina Severi Bettini († 28. Juli 1987) das komplette Areal und kümmerten sich um eine flächendeckende Instandsetzung. Danach wurden Historiker und Kunsthistoriker auf die Anlage aufmerksam. Es erschien eine Reihe von Veröffentlichungen, die das Interesse des Publikums weckten. Heute ist der Park ein beliebtes Ausflugziel und ein Wirtschaftsfaktor der kleinen Gemeinde.

Die fröhlichen Ausflügler, konnte ich beobachten, machten sich wenig Gedanken um mögliche Interpretationen und philosophische Hintergründe. Für sie scheinen die Skulpturen eine Art Disneyland zu sein, geschaffen zum reinen Vergnügen. Selbst wenn das nicht Orsinis Absicht gewesen sein sollte, ist der Zweck seiner Schöpfung nicht verfehlt.

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Impressionen aus dem Latium

Rom liegt im Latium, das an die Toskana und Umbrien grenzt, aber etwas abseits des touristischen Interesses liegt. Schon die Reisenden der berühmten Grand Tour ließen es eher links liegen, auch heute sind die Besucher aus aller Welt längst nicht so zahlreich, wie in anderen Landesteilen. Wer Rom besucht macht, wenn er genügend Zeit hat, einen Abstecher in die Albaner Berge, vorzugsweise zum Castel Gandolfo, aber das wars dann auch schon.

Das hat durchaus sein Gutes. Hier ist vieles erhalten geblieben, was anderenorts überbaut oder überformt wurde. Hier kann man auf den Spuren der Etrusker wandeln, die so viel zur römischen Zivilisation beigetragen haben, in der sie schließlich aufgelöst wurden. Hier findet man noch Relikte aus der Zeit der Herniker, von denen wir wenig wissen, weil sie nichts Schriftliches hinterlassen haben. Hier kann man Fresken aus dem 11. und 12. Jahrhundert bewundern, die nie übermalt worden sind, weil die Gegend ins weltgeschichtliche Abseits geriet. Außerdem gibt es atemberaubende Ausblicke auf Vulkanseen, das Thyrrhenische Meer, die Berge mit ihren Schwalbennester genannten Dörfern. Dazu ein berühmtes, nur hier zu findendes Licht, das weiche Konturen zeichnet und immer wieder Maler angezogen hat. Grund genug, uns dorthin aufzumachen.

Aber der Reihe nach.

Unsere Reise startete in Berlin mit Ryanair nach Rom. Maske trug nur noch, wer wollte, was nach zwei Jahren Zwang als befreiend empfunden wurde. Wie gut, dass es die Bilder aus dem maskenlosen Regierungsflieger gab! Leider mussten wir auf dem Rollfeld länger als eine halbe Stunde warten, ehe wir abheben duften, weshalb wir in den Feierabendverkehr nach Rom gerieten.

Zum Glück kannte unser Fahrer Ausweichstrecken, so dass wir sogar die berühmte Via Appia Antica überquerten, die nicht im Programm war. Heute sieht sie sehr idyllisch aus. Man kann die nicht überbauten Abschnitte auf dem alten römischen Pflaster erwandern. Die Straße und ihre nähere Umgebung sind als Regionalpark vor weiterer suburbaner Bebauung geschützt. Aber ich musste an die 71 v. Chr. nach der Niederlage des von Spartacus geleiteten Skalvenaufstands gekreuzigten 6.000 seiner Anhänger, die die Schlacht überlebten, denken. Eine Tat, mit der sich der siegreiche Feldherr Marcus Crassus Macht und Einfluss in Rom sichern konnte, seinen Namen aber auf ewig mit Grauen befleckt hat. Crassus endete wenigstens nicht friedlich. Nach der verlorenen Schlacht gegen die Parther im Juli 53 v. Chr. Wurde er während der Kapitulationsverhandlungen getötet. Nach Plutarchs Darstellung soll sein abgeschlagener Kopf im Rahmen einer Feier von einem griechischen Schauspieler während der Aufführung eines Stücks von Euripides präsentiert worden sein:

Unsere erste Station ist Castel Gandolfo, herrlich gelegen über dem Albaner See. Im Palast dieser Stadt residierten seit dem 17. Jahrhundert die Päpste im Sommer, wenn es in Rom brütend heiß war, hier aber vom See immer ein kühlendes Lüftchen aufstieg. Papst Franziskus hat die Residenz aufgegeben. Sie dient seit dem 21. Oktober 2016 als Museum.

Hier war 1767 auch Goethe, der von Rom eine dreiwöchige Auszeit im Haus eines englischen Kunsthändlers nahm. Ihn interessierte weniger die Nähe des Papstes, als eine schöne Mailänderin, mit der er in ein heftiges achttägiges Techtelmechtel verfiel. Aber ach, Maddalena Riggi war verlobt, was Goethe ernüchterte und in Gedanken zur unerreichbaren Charlotte in Weimar zurückbrachte. Als er später Maddalena noch einmal in Rom begegnete, war sie zwar entlobt, aber seine Abreise stand kurz bevor und ohnehin gehörte sein Herz inzwischen einer geheimnisvollen Römerin.

Zum Albanersee gibt es auch eine interessante Geschichte. Er füllte sich im Altertum immer mehr mit Wasser, so dass die höher gelegenen Siedlungen mit Überschwemmung bedroht wurden. In ihrer Not wandten sich die Bewohner an das Orakel von Delphi, das riet, dem abflusslosen See einen künstlichen Ausgang zu verschaffen. Das geschah in Form eines Tunnels. Seit einiger Zeit sinkt der Wasserspiegel. Offiziell heißt es, der Klimawandel sei die Ursache dafür. Der wirkliche Grund sind eher die illegalen Wasserentnahmen, die anscheinend immer noch nicht beendet wurden. Immerhin sind durch den Rückgang des Wassers am Ufer Sandstrände entstanden, wo man baden und einen Drink an den flugs gebauten Strandbars genießen kann. Der See ist noch 170m tief, man kann also hoffen, dass vor seinem endgültigen Verschwinden noch rechtzeitig Schutzmaßnahmen getroffen werden.

Quartier nehmen wir im Hotel Terme in Fiuggi, das ich wegen der wunderbaren Massagen, die man dort bekommt, wärmstens empfehlen kann. Von der Stadt, die auch über ein altes jüdisches Viertel verfügt, habe ich leider nichts gesehen, denn es standen interessantere Orte auf dem Programm.

Unser Ziel am nächsten Tag war Anagni, eine Stadt, die malerisch ein Berg hinabfließt. In Vorzeiten galt der Ort wegen seiner vielen heidnischen Tempel als Hauptstadt der Herniker, eines der untergegangenen Völker der Gegend. Im frühen Christentum errichteten die Bewohner von Anagni über 70 Kirchen. Es diente im Mittelalter als Residenz von Päpsten und Ort von Konklaven. Hier residierten vier Päpste, von denen einer, Bonifatius VIII Berühmtheit erlangte, als er am 7. September 1303 in seiner Residenz von einer Bande bewaffneter in französischen Diensten überfallen und von deren Hauptmann Colonna geohrfeigt wurde. Dann versuchten die Häscher den 68-jährigen Pontifex zu entführen, wurden aber ihrerseits von den beherzten Bürgern attackiert und mussten Bonifatius nach drei Tagen wieder freilassen. Der Vorfall ging als Attentat von Anagni in die Geschichte ein. Bonifaz VIII zog sich nach Rom zurück, wo er nach einem Monat starb. Der Überfall auf ihn wurde Anlass zur Verlegung der Papstresidenz nach Avignon.

Als ob das nicht schon genug Historie wäre, exkommunizierte Gregor IX. Friedrich II, den Kulturförderer und Islamversteher auf dem Thron, gleich zweimal (1227 und 1239) an diesem Ort.

Danach wandte sich die Geschichte von der kleinen Stadt ab, was dazu führte, dass die herrlichen Malereien in ihrer Krypta in zum Teil staunenswertem Erhaltungszustand zu bewundern sind. Unsere Führung durch diese Malereien dauerte zwei Stunden und konnte uns nur einen Teil der Schätze näherbringen. Nicht umsonst wird die Krypta als Sixtinische Kapelle von Latium bezeichnet.

Absolut sehenswert sind auch die Fußbodenmosaiken aus römischer

Zeit, die in ungewöhnlicher Feinheit ausgeführt sind.

Man müsste wenigstens einen Tag in Anagni verbringen, aber die heutigen Reisen sind auf Tempo angelegt. Wir besuchen deshalb Altari, das für seine zyklopischen Mauern berühmt ist. Sie sind auf der Akropolis der Stadt perfekt erhalten geblieben. Der erstaunte Zeitgenosse fragt sich, wie das Volk der Herniker es ohne die modernen Hilfsmittel fertiggebracht hat, diese Riesenblöcke aufeinanderzuschichten. Wir wissen nichts von ihnen, außer dass sie existierten und auf ihren Mauern die römische Zivilisation aufgebaut wurde. Sie haben keine Aufzeichnungen, keine Bilder hinterlassen, nur diese jahrtausendealten Zeugnisse ihrer Baukunst. So viele Völker haben bereits auf der Erde gelebt und sind verschwunden. Ich frage mich, welches Bauwerk des 20. Jahrhungerts solche Zeiträume überdauern könnte. Was hinterlassen wir den künftigen Generationen? Wieso glauben wir, wir seien vor dem Verschwinden gefeit?

Zum Abschluss des Tages besuchen wir die älteste Zisterzinserabtei im Latium in Casamari. Das Kloster wurde wiederum auf den Ruinen der Römerstadt Cereatae errichtet. Es hat seinen Namen (Casa Marii = Haus des Marius) von dem dort geborenen römischen Konsul Gaius Marius. Es war zunächst seit 1009 Kollegialstift des Bistums Veroli und wurde um 1030/1035 in eine Benediktinerabtei umgewandelt. Trotz seiner wechselvollen Geschichte mit Zerstörungen und Plünderungen ist es gelungen, das Kloster als lebendigen Ort bis heute aufrecht zu erhalten. 1929 bildete Casamari eine eigene Zisterzinserkongregation, die einige Klöster errichtete oder wiederbesetzte, speziell in Äthopien, wo das Christentum  noch lebendiger ist, als in Europa. Vielleicht kommen ja die Impulse, die für sein Überleben wichtig sind, aus Afrika.

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Eine Sekunde

Dieser chinesische Film hätte aus mehreren Gründen eine große Bühne verdient. Aber er wird nur in kleinen Kinos, meist nachmittags, gezeigt und der Saal ist fast leer. Bei der Vorstellung gestern in den Hackeschen Höfen waren außer mir nur drei Zuschauer anwesend.

Dabei ist über dieses Werk viel geschrieben und spekuliert worden. Er sollte auf der „Berlinale“ 2019 gezeigt werden, wurde aber nur vier Tage vor der Aufführung aus „technischen Gründen“ zurückgezogen. Die französische Jurypräsidentin Juliettte Binoche bedauerte bei der abschließenden Preisverleihung im Namen der gesamten Jury, dass der Film nicht gezeigt werden konnte, vermied aber direkte Kritik an der chinesischen Regierung. Ein im Westen nur zu übliches Vorgehen.

„Zhang war eine wichtige Stimme im internationalen Kino. Wir brauchen Künstler, die uns helfen, die Geschichte zu verstehen […] Wir hoffen, dass dieser Film bald auf der ganzen Welt zu sehen sein wird.“

Inzwischen ist der Film zu sehen und er trägt sehr viel zur Aufklärung über die Geschichte der Mao-Diktatur bei, obwohl er offensichtlich entschärft werden musste. Die Film-Crew kehrte an den Drehort zurück und mehrere Szenen wurden neu gedreht. Andere wurden umgeschnitten. Was übrig blieb, ist eindrucksvoll genug.

Gezeigt wird die Geschichte eines aus der Lagerhaft geflohenen politischen Gefangenen der Kulturrevolution, der sich unter Lebensgefahr durch die Wüste Gobi schlägt, um in einem Oasendorf an einer Filmvorführung teilzunehmen. Sein Interesse gilt aber nicht dem propagandistischen Hauptfilm, sondern der Wochenschau 22, in der seine 14jährige Tochter, die er seit sechs Jahren nicht gesehen hat, zu sehen sein soll.

Schon der Filmbeginn ist grandios:

Es wütet ein furchtbarer Sandsturm. Der Himmel verdüstert sich, der Wind treibt den Flüchtling vor sich her, es herrscht ohrenbetäubender Lärm. Es sind stürmische Zeiten voller Gewalt. Dieser Sturm sagt mehr, als es Bilder aus dem Lager könnten. Er symbolisiert den einsamen Kampf gegen eine scheinbar unbezwingliche Übermacht. Diese Szene ist existenziell und zeugt von der souveränen ästhetischen Meisterschaft des Regisseurs Zhang Yimou, einem der ganz Großen des chinesischen Films. Im Film erzählen Farbe, Licht und Bildkomposition eine komplexere Geschichte als der vergleichsweise schlichte Plot um eine gestohlene Filmrolle.

Offiziell wurde das Werk als eine Hommage an das Zelluloid-Kino beworben und das ist es auch. Es ist aber eben viel mehr: Ein Blick auf die Verhältnisse im kommunistischen China während der Kulturrevolution. Während im Westen die Linken begeistert Mao-Bibeln lasen und mit Bildern des Diktators gegen das demokratische „Schweinesystem“ demonstrierten, lebten die Chinesen in ärmlichsten Verhältnissen.

Organisiert in durchnummerierten Arbeitseinheiten, die voneinander abgeschottet waren, hungrig, am Rande des Existenzminimums. Selbst die Mitglieder der „Sicherheitsbrigade“, die mit Holzknüppeln bewaffnet den Geflohenen einfangen und ins Lager zurückbringen, hoffen auf eine anständige Mahlzeit als Belohnung.

Bevor er abgeführt wird, hat der Geflohene aber sein Ziel erreicht. Er konnte seine Tochter sehen, die tatsächlich für eine Sekunde in der Wochenschau auftaucht. Nachdem alle Dorfbewohner nach der Vorstellung den Kinosaal verlassen hatten, baut der „Onkel Filmvorführer“, eine Respektsperson im Dorf, der man sofort einen Tisch in der Kantine frei macht, eine Schleife in der die Sekunde Tochter immer wiederholt wird. Dann geht er die Sicherheitsbrigade holen. Für die Auslieferung verlangt er, Filmvorführer bleiben zu dürfen.

Auch die Figur des Kino-Onkels ist komplex angelegt. In einem scheinbar unbewachten Augenblick steckt er dem bereits gefesselten Häftling ein Bild seiner Tochter zu.

Genauso komplex ist auch die Beziehung zwischen dem Geflohenen und dem Waisenmädchen Liu, das die Filmrolle stiehlt, um aus den Filmstreifen einen Lampenschirm zu basteln. Wie die beiden, die sich anfangs bis aufs Messer bekämpfen, Freunde werden, ist eine berührende Geschichte für sich.

Ein anderes Beispiel für die drückende Armut ist der geistig behinderte Sohn des Filmvorführers, der als Kutscher arbeitet, seine Peitsche reparieren musste und dafür den Klebestreifen an der Filmrolle entfernt, mit dem Ergebnis, dass der Film aus der Rolle in den Straßenstaub fällt und abgewickelt wird. Wie aus dem staubigen Gewirr wieder ein vorführbarer Film wird, ist allein wert, das Meisterwerk gesehen zu haben.

Hinzu kommen unvergessliche Bilder von der Wüste Gobi, mit dem schneebedeckten Hochgebirge am Horizont.

Das Filmende ist garantiert von der Zensur so gewollt. Zwei Jahre nach seiner erneuten Inhaftierung kommen die Lagerhäftlinge auf Grund einer neuen Direktive frei. Ausgestattet mit frischen Mao-Uniformen dürfen sie nach Hause gehen. Aber der Ex-Häftling geht nicht zu seiner Familie, die ihn im Lager nie besucht hat, sondern in das Oasendorf. Das Waisenmädchen sieht inzwischen auch nicht mehr abgerissen aus, sondern trägt eine adrette Jacke und Zöpfe, wie das revolutionäre Mädchen im Propagandafilm.

Aber das ist nur eine kleine Sequenz, die dem Meisterwerk keinen Abbruch tut.

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Die Ausstrahlung Mexikos oder der Mythos des Besitzens

Berlin ist immer noch eine Kiezstadt, das heißt, man kommt selten über seinen Kiez hinaus. Pankow, Prenzlauer Berg, Weißensee und Mitte, was braucht man mehr? Es gibt wenig Grund, nach Neukölln zu fahren und deshalb habe ich von der Neuköllner Oper bisher nichts mitbekommen. Ein großes Manko, wie ich bei der Premiere von „Mexiko Aura: The Myth of Possession“, die ich im Humboldt-Forum gesehen habe, feststellen musste. Die Truppe verfügt über starke Stimmen und grandiose Tänzer, die eine neuartige und ungewohnte Inszenierung zum Erlebnis machen.

Die Idee entstand, wie das Programmheft verrät, bei der Begegnung mit der mexikanischen Komponistin und Sängerin Diana Syrse, die auch eine der beiden Hauptrollen übernommen hat und dem Tänzer und Choreographen Christopher Roma. Es sollte versucht werden, über Musik, Tanz, mehrsprachigem Text, Körper und Stimmen die Kulturen Mexikos einzufangen. Das ist gelungen.

Ich gesteh, dass ich keine Freundin moderner Kompositionen bin, aber Syrses Musik hat mich nach kurzer Eingewöhnung in ihren Bann gezogen. Sie hat etwas Magisches. Das liegt nicht nur an den präspanischen Instrumenten aus Mexiko, die sie einsetzt, sondern an der Kunst, auch NichtIinstrumenten, wie Plastetüten, Töne abzuringen, was völlig neue Klangeffekte erzeugt.  Und dann die Symbiose, die Musik und Tänzer eingehen – das ist meisterhaft!

Mich hat die Dirigentin Melissa Panlasigui so fasziniert, dass ich ab und zu Gefahr lief, das Geschehen auf der Bühne zu verpassen. Bewundernswert, wie Panlasigui dafür sorgte, dass alle Einsätze auf den Punkt gebracht wurden.

Überraschend war, wie Teile von Reportagen des Claas Relotius von Texter John von Düffel aufgegriffen und für das Stück verarbeitet wurden. Schließlich scheint Relotius Mexiko ebenso wenig besucht zu haben, wie einst Karl May Amerika. Das war der weniger überzeugende Teil des Ganzen.

Einer der „Augenzeugenberichte“ von Relotius ist „Das Zuhause auf der größten Müllkippe Lateinamerikas“. Da ist das erschütternde Thema, dass Menschen von den Abfällen unserer Lebensweise existieren, eher unzureichend behandelt. Das hat Sebastian Fitzek in seinem Buch „Noah“ mit der Beschreibung der philippinischen Müllkippe 

viel überzeugender behandelt. Dazu kommt, dass das reinweiße Plastiktuch, in dem die Tänzer sich bewegten, auch eher an eine Wolke, als an einen Abfallhaufen erinnert.

Dafür ist Teil zwei, dessen Text von Eva Hibernia stammt, um so gelungener. In einem Museum begegnen sich des nachts eine Kuratorin und eine geheimnisvolle Künstlerin oder Aktivistin.

„In einem halb konkreten, halb mystischen Raum (Vier Mosaiksteine- vier Himmelsrichtungen- vier Farben) entfaltet sich eine Geschichte über ihr Verhältnis zueinander und über Traditionen und Mythen aus ihrem Heimatland“, so steht es im Programmheft. Und weiter, dass die Geschichten weniger komplex als in Stereotypen erzählt werden. Wenn das so sein sollte, sind es jedenfalls Stereotypen, die sehr komplexe Assoziationen auslösen.

Ganz mystisch wird es, wenn auf die Enema-Vase Bezug genommen wird, die demnächst im Ethnologischen Museum zu sehen sein wird. Sie zeigt Riten der Maya, die sich halluzinogene Substanzen durch den After einführen. Da die Figuren nackt sind, ist auch der vortragende Sänger nackt, was bei manchen Damen Herzrasen verursacht haben könnte, denn zwei verließen fluchtartig den Saal.

Aber das übergreifende Thema der Oper ist das Problem, was eine Kultur, die so viel Müll produziert, in der Tiefsee kann ein Plastebecher offenbar Jahrhunderte überdauern, ohne eine Spur von Verwesung zu zeigen, bedeutet. Was das für unser Leben heißt. Das Bühnenbild und die Kostüme von Sängern und Tänzern bestehen überwiegend aus Plastemüll. Mit roter Plasteplane kann man sogar ein Autodafé darstellen. Mit Müll kann man also Eindruck erzeugen.

Das ganze Stück atmet Untergangsstimmung. Es endet damit, dass der fälschlich für den 12. Dezember 2012 berechnete

Weltuntergang laut Mayakalender, die Schnapszahl 12.12.12 lag nur wenige Tage vor dem Ende des Kalenders, auf den 12.12. 22 verlegt wird.

Allerdings muss der Weltuntergang nicht das Ende, sondern könnte die Transformation, die durch die Sonne ausgelöst wird, bedeuten.

Da ist dann also der notwendige Hoffnungsschimmer am Schluss, den zweiTänzer darstellen. So viel Schönheit und Grazie darf einfach nicht enden!

Nächste Vorstellungen: 23., 24., 29. Juli im Humboldt-Forum

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Drei Musketiere im Schloss Sondershausen

Wo liegt denn Sondershausen, werden sich die meisten meiner Leser fragen. In der Mitte Deutschlands, wo Deutschland am deutschesten ist, wie ein bekanntes Politmagazin Mitte der Neunziger Jahre schrieb. In der Nähe befinden sich Fundstätten der Urgermanen. Aber auch sonst ist die Gegend geschichtsträchtig. Knappe 20 km Richtung Osten liegt der Schlachtberg, wo das Bauernheer von Thomas Müntzer vernichtend geschlagen wurde. Heute ziert das im Volksmund so genannte „Elefantenklo“ die weggesprengte Spitze des Berges, das Werner Tübkes phänomenales Bauernkriegsgemälde beherbergt. Außerdem ist da noch, das kleinste, aber artenreichste Gebirge Deutschlands, der Kyffhäuser, wegen seiner Steilkurven besonders beliebt bei Bikern.

Der neueste Grund, sich nach Sondershausen zu begeben, sind die eben eröffneten Schlossfestspiele, die nach zwei Jahren Zwangspause endlich wieder im Innenhof zwischen Renaissance- und Barockflügel stattfinden.

Die erste Premiere fand am vergangenen Freitag statt: „3 Musketiere“, ein Musical nach der berühmten Geschichte von Alexandre Dumas, dem Älteren. Ich bin kein besonderer Musicalfan, ich bevorzuge Oper.

Aber diese Aufführung zog mich sofort in ihren Bann und ließ mich bis zum Schluss nicht mehr los. Das lag einerseits an der wunderbaren Musik und der Handlung, die mit Witz, Leichtigkeit und Spannung überzeugte, ohne ins Pathos abzugleiten. Man fragt sich, warum das Werk von Rob und Ferdi Bolland so selten auf den Spielplan gesetzt wird. Das liegt vor allem aber an der überragenden Inszenierung (Sabine Serker), bei der alles stimmt: Hervorragende Sänger, ein tolles Bühnenbild (Wolfgang Kurima Rauschning), phantastische Kostüme (Anja Schulz-Hentrich). Auch Chor und Ballett des Theaters Nordhausen müssen keinen Vergleich scheuen. Die Stammtruppe ist seit Jahren in hervorragender Form, bietet erstklassige Sänger und Tänzer.

Seit Beginn der Schlossfestspiele gehört es zum Konzept, jungen Sängern die Möglichkeit zu bieten, in großen Rollen ihr Können zu zeigen. Auch diesmal ist es gelungen, sehr gute Stimmen zu verpflichten.

Da ist natürlich zuerst der hervorragende Tobias Bieri als D’Artagnan zu nennen, der auch ein beträchtliches schauspielerisches Talent mitbringt. Daneben Eve Radis als Milady de Winter, die sowohl gesanglich, als auch mimisch und sogar beim Fechten erste Klasse bietet. Nicky Wuchinger als Arthos läuft bei seinem Solo „Lady aus Kristall“ zu Höchstform auf. Marian Kalus überzeugt als Richelieu. Laura Saleh ist eine wunderbare Konstanze.

Fast habe ich ein schlechtes Gewissen, dass ich nur diese Sänger nenne, denn der Rest der Truppe ist kongenial.

Dabei ist die Inszenierung sehr anspruchsvoll, mit vielen schwierigen Szenen, die leicht ins Auge gehen könnten. Aber die rasanten Fechtszenen sind hervorragend einstudiert von Philipp Franke, der sowohl für die Choreografie als auch für das Training verantwortlich ist.

Die Aufführung ist Augenweide und Ohrenschmalz zugleich, gute Unterhaltung, ohne mit Zuschauerbelehrung zu nerven, wie es heute leider allzu üblich geworden ist. Die Reminiszenz an den Zeitgeist sind Conferncier und Punk, die in das Stück einführen. Christopher Werneke entwickelt dabei aber so viel Charme, dass er schon zu Beginn das Publikum hinreißt und den verdienten ersten Applaus bekommt.

Nur an einer Stelle bricht die Realität ein: Als der Krieg zwischen Frankreich und England dargestellt wird, erinnern die am Schluss der Szene auf die Zuschauer gerichteten Kanonenrohre beklemmend an den Krieg in der Ukraine.

Am Ende der Vorstellung ist der Schlosshof in romantische Dunkelheit getaucht, die Zuschauer wollen lange nicht mit Klatschen und Bravo-Rufen aufhören. Wie gut, dass die Gastronomie wieder zugelassen ist, so dass man den Genuss mit einem guten Wein oder Cocktail krönen konnte.

Nächste Vorstellungen:

9., 13., 14., 16., 20., 21., 23. Juli.

Karten gibt es hier:

https://theater-nordhausen.de/schlossfestspiele/3-musketiere-2017