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Buch/Filmkritik

Wer die Moral über das Recht stellt, verliert beides

Ursprünglich veröffentlicht auf vera.lengsfeld.de am 23.03.20

Der Filmemacher Imad Karim wollte herausfinden, warum Ex-Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen von Kanzlerin Merkel gefeuert wurde. Hatte Deutschland den Schutz seiner Verfassung sechs Jahre lang einem Mann anvertraut, der ein Verfassungsfeind ist?

Im Gegenteil, Maaßen ist nach wie vor Verfassungsschützer, auch als Privatmann. Aus Sorge um unser Land. Wenn in Deutschland weiter so verfahren wird,  dass Recht und Gesetz zur disposition gestellt werden, wann immer ein angeblich höherer Zweck es verlangt, sieht Maaßen eine dunkle Zukunft für uns. Aber: “Wenn Deutschland ein toter Gaul wäre, würde ich ihn nicht reiten”. Maaßen ist zuversichtlich, dass man mit Bildung und Meinungsfreiheit die Kreativität fördern kann, die wir brauchen, um die Krise zu überwinden. Deshalb macht er es nicht wie Freidrich August III, der abdankte mit den Worten: “Macht doch euren Dreck alleine”, sondern mischt sich ein. Maaßen ist ein Hoffnungsträger in unserer Zeit!

Hier kann man den ganzen Film sehen. Es lohnt sich und ist eine gute Alternative zur alltäglichen Staatspropaganda.

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Geschichte

Nikita Chrustschow hat der Sowjetunion das Lachen wiedergegeben

Ursprünglich veröffentlicht auf vera-lengsfeld.de am 27.02.20

Der Vortragsraum des Berliner Hayekclubs war so gut gefüllt, dass kaum eine Stecknadel zu Boden fallen konnte. Man war gekommen, um einen Vortrag des bekannten Historikers Jörg Baberowski über den leider fast vergessenen Nikita Chrustschow zu hören. In einer Zeit, da uns das Lachen in Deutschland fast vergangen ist, weil vor aller Augen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie von unseren „Eliten“ in Politik und Medien immer schamloser demontiert werden, erwies sich der Vortragstitel als Publikumsmagnet.

In der obligatorischen Vorstellungsrunde bezeichneten sich zwei Anwesende mit einem gewissen Galgenhumor als „Internethetzer“ und „Internbethetzerin“, um zugleich politisch-korrekt zu präzisieren: „Internethetzende“. Das Lachen zeigte, dass hier vor allem Regierungskritiker versammelt waren. Was die Anwesenden von Baberowski zu hören bekamen, war selbst für Leute, die sich in der Geschichte der Sowjetunion sehr gut auskennen, neu und spannend.

Als Anfang März 1953 in Stalins Datscha in Kunzewo bei Moskau, nicht wie üblich gegen 12 Uhr ein Glöckchen klingelte, zum Zeichen, das man nun das Schlafzimmer des Despoten betreten und ihm das Frühstück servieren durfte, traute sich keiner seiner Bediensteten oder der anwesenden Leibwächter, das Zimmer zu betreten und nachzuschauen, warum Stalin kein Zeichen gab.

Nach einigen Stunden rief man im Kreml an, wo man Stalin bereits vermisste. Eine kleine Gruppe von Politbüromitgliedern fuhr nach Kunzewo. Als sie die Tür zu Stalins Schlafzimmer geöffnet hatten, sahen sie den Diktator in seinen Exkrementen am Boden liegen. Er hatte einen Schlaganfall erlitten, lebte aber noch. Den Politbürokraten war klar, dass sie ihr Leben verwirkt hatten, sollte Stalin von seinem Anfall genesen. Niemand, der ihn so gesehen hat, hätte weiter leben dürfen. Also schlossen sie die Tür wieder, erklärten, Stalin schliefe noch, dürfe nicht gestört werden und kehrten erst am nächsten Tag mit Ärzten zurück. Der Diktator lebte zwar immer noch, war aber bereits jenseits aller Rettungsmöglichkeiten. Während sich Stalins Sterben hinzog, mussten die Politbürokraten die Nachricht von seinem Tod vorbereiten. Das war nicht so einfach, denn Stalin wurde wie ein Gott verehrt und Götter sterben nicht. Einerseits konnten sich die Politbürokraten eine Welt ohne Stalin nicht vorstellen, andererseits musste die Herrschaft des Politbüros ohne Stalin neu legitimiert werden. Man einigte sich auf eine Kollektivführung und einen sofortigen Bruch mit den stalinistischen Herrschaftsmethoden. Man wollte einander nicht mehr umbringen. Die einzige Gefahr für die Runde, Lawrenti Beria, Georgier wie Stalin und sein Geheimdienstchef, wurde im Juni 1953 auf die alte Weise beseitigt. Man wickelte ihn im Arbeitszimmer von Molotow in einen Teppich, schaffte ihn aus dem Kreml und ins Gefängnis, stellte ihn vor ein Standgericht und ließ ihn erschießen. Damit war die Gefahr der Rückkehr stalinistischer Methoden für immer gebannt.

Im Westen wurde später immer wieder die Frage gestellt, wieso es ausgerechnet Nikita Chrustschow, der Bauer aus dem Kuban, der Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben hatte, sodass er lieber diktierte, an die Spitze geschafft hatte. Baberowskis einleuchtende Antwort war, dass Chrustschow als der Ungefährlichste der Nachfolger galt.

Alle Politbürokraten hatten ihren Anteil an Demütigungen und Leid von Stalin erfahren. Sie mussten nach dem Arbeitstag Stalins, der gegen Mitternacht endete, mit ihm im Kreml Filme schauen, meist amerikanische Western, ihn dann auf die Datsche begleiten und mit ihm essen. Dabei wurden sie aufgefordert, zum Beispiel auf dem Tisch zu tanzen, wie Chrustschow, oder sich zum Gaudi auf Tomaten zu setzen, wie ein anderer Politbürokrat. Erst gegen vier Uhr Morgens durften sie in ihre Wohnungen fahren. Das waren die harmlosen Schikanen, denen die Politbürokraten ausgesetzt wurden. Schlimmer war es, wenn ihre Frauen in den Gulag geschickt wurden, wie die Ehefrau von Molotow, der selbstverständlich zustimmen musste, der Bruder im eigenen Arbeitszimmer erschossen wurde, wie es Lazar Kaganowich passierte oder man gezwungen wurde, Teile der eigenen Familie exekutieren zu lassen, wozu Beria gezwungen war.

Für Stalins Nachfolger war sein Tod eine Befreiung von diesen Marten. Sie leiteten eine stille Entstalinisierung ein. Als Erstes beendeten sie die Prozesse gegen die jüdischen „Mörderärzte“ , die angeblich vorgehabt hatten, Stalin zu vergiften und stoppten die mit diesen Prozessen verbundene antisemitische Kampagne. Dann leiteten sie die Entlassung der Gefangenen des Gulag ein.

Aber Nikita Chrustschow wollte mehr. Er war von Schuld, die er in der Stalinzeit auf sich geladen hatte, auch er hatte Todeslisten unterschrieben und Genossen denunziert, gepeinigt. Er wollte, dass über die Stalinschen Verbrechen geredet wurde. Deshalb lud er Gefangene ins Politbüro ein, um dort über ihre Erlebnisse im Lager zu berichten. Das waren zuerst die Angehörigen der Politelite, wie die Frau von Molotow. Damit wurden aus abstrakten Taten anschauliche Verbrechen. Als dem Politbüro über die letzten Stunden des ehemaligen Politbürokraten Eiche, dem man kurz vor seiner Erschießung noch ein Auge ausschlug, berichtet wurde, war dies das Ende eines Menschen, den sie alle kannten, mit dem Manche befreundet gewesen waren. Zum Schluss mussten die Täter vor dem Politbüro berichten. Danach wurde das Verbot von Folter und willkürlichen Erschießungen beschlossen.

Die Entstalinisierung war kein Machtkampf, sondern das Projekt eines Mannes, der mit seiner Schuld nicht mehr leben konnte und für den diese Schuld abzutragen eine Befreiung vom Übervater war.

Stalins Datscha wurde ausgeräumt, seine Habseligkeiten über das ganze Land verteilt, sein Personal entlassen. Nichts sollte mehr an ihn erinnern. Seine Bilder wurden in den Parteibüros und den öffentlichen Räumen abgehängt. Schließlich wurde seine einbalsamierte Leiche aus dem Lenin-Mausoleum entfernt und an der Kremlmauer beigesetzt. Das war für Chrustschow nicht genug. Mit den Anhörungen im Politbüro bereitete er die Erlaubnis vor, auf dem Parteitag 1956 über die Verbrechen Stalins zu berichten.

Vorher revitalisierte Chrustschow die Partei, die unter Stalin nur noch ein Schattendasein geführt hatte, als Ort der politischen Mobilisierung. Seine Rede vor dem Parteitag war keineswegs geheim. Sie wurde nicht nur vor den Delegierten gehalten, sondern anschließend überall in der Sowjetunion öffentlich verlesen. Die Botschaft war, dass die Todesdrohung als Mittel der Repression Geschichte war. Es durfte wieder offen gesprochen und die Regierung kritisiert werden. Chrustschows Entstalinisierung war ein Akt der Zivilisierung der sowjetischen Gesellschaft. Seine großartige Tat brachte aber nicht nur Erleichterungen des Lebens mit sich.

Die Hunderttausenden politischen Gefangenen, die aus dem Gulag zurückkkehrten, waren ein Problem. Die wenigsten konnte, wie die Ehefrau von Molotow, ins traute Heim zurückkehren. Es gab für die ehemaligen Häftlinge, in einer Zeit, dass viele Menschen noch in überfüllten Gemeinschaftswohnungen, baufälligen Hütten oder gar Erdlöchern hausten, keine Wohnungen, keine Arbeit, nicht genügend Lebensmittel für die Entlassenen.

Aber eins hatte Nikita Chrustschow erreicht: Es durfte wieder gelacht werden, auch über ihn. Die Zahl der Chrustschow-Witze ist Legion. Einer davon lautet: Nikita besuchte eine Kunstausstellung. Er geht von Bild zu Bild und fragt die Maler, was denn diese Hundescheiße oder jene Krakelei darstellen soll. Zum Schluss fragt er: Und was ist dieser Arsch mit Ohren? Das ist ein Spiegel, Nikita Sergejewitsch, antwortet einer der Künstler. Für diese Witze musste niemand mehr Repressionen befürchten.

Als Molotow und Kaganowich den ersten Versuch machten, Chrustschow zu stürzen, landeten sie, als der Putsch scheiterte, nicht vor dem Erschiessungspeleton, wie Molotow noch befürchtete, auch nicht im Lager, sondern wurden Direktor einer Asbestfabrik im Ural (Kaganowich) und Botschafter in der Mongolei (Molotow).

Auch als Chrustschow am Ende doch noch gestürzt wurde, weil er eine Amtszeitbegrenzung für Funktionäre einführen wollte, wurde er nicht gedemütigt und verhaftet, sondern mit Ehrerbietung in den Ruhestand geschickt. Damit hatte der Mann, der seien Landsleuten das Lachen wiedergegeben hatte, endgültig über Stalin gesiegt.

Hier kann man den Vortrag von Baberowski nachhören.

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Kultur

Effi Briest im Jungen Theater Nordhausen

Ursprünglich veröffentlicht auf vera-lengsfeld.de am 26.01.20

Am vierten Januarwochenende gab es im Theater Nordhausen gleich zwei Premieren. Neben der „Zauberflöte“, der rätselhaftesten Oper von Wolfgang Amadeus Mozart, wurde im „Theater unterm Dach“ „Effi Briest“, ein Erzähltheatersolo nach dem Erfolgsroman von Theodor Fontane, aufgeführt.

Wer das Stück gesehen hat, weiß, dass Fontanes Stoff nichts von seiner Faszination verloren hat. Das liegt nicht nur an der guten literarischen Bühnenfassung von Karin Eppler, die sich eng an Fontane hält, ihm dennoch nicht sklavisch folgt, sondern auch an der souveränen, kurzweiligen Inszenierung. Das ist auch ein Erfolg der Erzählsolistin Eva Lankau, die verschiedene Personen, Männer und Frauen verkörpert und der es manchmal nur mit ihrer Mimik gelingt, die Spannung zu halten oder den Plot in eine bestimmte Richtung zu lenken.

Das Bühnenbild, das von der Regisseurin Daniele Bethge entworfen wurde, zeigt eine Wand, die in tapezierte Quadrate unterteilt ist, ein Sinnbild der Salons, in denen sich das gesellschaftliche Leben zu Effis Zeiten abspielte. Nach und nach werden die Quadrate umgedreht und Porträts der handelnden Personen sichtbar. Dazwischen ist eine Leinwand, auf der immer wieder die junge Effi, gespielt von Lisa Jacobi, erscheint. Komplettiert wird das Ganze von einer Schaukel, einem Stuhl, einem Sofa, einem Nähkästchen – alles Gegenstände, die in Fontanes Roman Schlüsselrollen spielen. Im Film sieht man noch das Rondell im elterlichen Garten, das für Effi das Symbol ihres unbeschwerten Lebens ist. Hier fühlt sie sich „so wohl und so glücklich; ich kann mir den Himmel nicht schöner denken“.

Effi ist ein Naturkind, sie sehnt sich nach der Sonnenseite des Lebens, sie schaukelt, um sich frei und schwerelos zu fühlen. Angst hat sie keine, im Gegenteil, „ich falle jeden Tag wenigstens zwei-, dreimal, und noch ist mir nichts gebrochen“.

Ihre Freundin Hulda warnt sie deshalb, dass Hochmut vor dem Fall kommt. Effi hat trotz aller Wildheit ein Faible für alles „Vornehme“. Deshalb willigt sie sofort ein, als ihre Mutter sie fragt, ob sie den 21 Jahre älteren Baron von Instetten heiraten will, der Landrat ist und auf eine Ministerkarriere hoffen kann.

Auf der Bühne wird die Handlung durch erhaltene Post vorangetrieben. Effi fühlt sich in ihrer neuen Umgebung unwohl. Aus dem wilden Mädchen wird eine steife Sprechpuppe, genau das, was sie ihrer Tochter später vorwirft. Das Haus von Instetten ist unheimlich. Da hängen ein Haifisch und ein Krokodil von der Decke und im Saal über Effis Schlafzimmer verursachen die zu langen Gardinen unheimliche Geräusche. In diesem Saal hat anlässlich der Hochzeit des Vorbesitzers ein Chinese mit der Braut getanzt, die dann verschwand. Der Chinese war kurz darauf tot – ein Fingerzeig auf Effis Schicksal.

Weil ihr Ehemann aus Karrieregründen häufig unterwegs ist, fühlt sich Effi einsam. Das ebnet den Verführungsversuchen des „Traums aller Frauen“, Major Crampas, den Weg. Sie liebt ihn nicht, lässt sich aber auf ein Verhältnis mit ihm ein und bewahrt seine Liebesbriefe in ihrem Nähkästchen auf. In Berlin, wohin sie mit ihrem Mann zieht, vergisst sie den Liebhaber und seine Briefe, bis sie von ihrem Mann gefunden werden.

Der Abstieg von Effi Briest ist begleitet von ihrer sich entwickelnden Lungenkrankheit, die schließlich zu ihrem Tod führte. Kurz vorher wird sie von ihren Eltern wieder aufgenommen, sie besteigt noch einmal ihre geliebte Schaukel, fühlt sich wieder frei, wie zu ihren Mädchentagen. Hier verschmelzen Lebenslust und Todessehnsucht.

Im Rondell bekommt sie ihren Platz an der Sonne, indem die Sonnenuhr durch ihren Grabstein ersetzt wird. Die Schlussszene auf der Bühne, auf der die leere Schaukel in Bewegung gesetzt wird, könnte nicht eindrücklicher sein.

Es tut dem Stück sehr gut, dass Eppler darauf verzichtet hat, Effis Ende, wie im Film von Hermine Huntgeburth, der 2009, mit Julia Jentsch und Sebastian Koch attraktiv besetzt, in die Kinos kam, in eine Emanzipationsgeschichte umzuschreiben. Obwohl das Urbild der Effi, Elisabeth von Plotho, nach ihrer Scheidung sich tatsächlich auf eigene Beine stellte und als Krankenschwester arbeitete, hat Fontane Effis Ende gewählt, um nachdrücklich auf die Zwänge des wilhelminischen Zeitalters aufmerksam zu machen. Das zwingt den Leser, in Nordhausen den Zuschauer zum Nachdenken, aus dem ihn ein Happy End entlassen hätte.

Der lang anhaltende Schlussbeifall zeigte, dass die Inszenierung das Publikum überzeugte.

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Kultur Reisen

Das Comeback der entarteten Bilder

Ursprünglich veröffentlicht auf vera-lengsfeld.de am 10.01.20

An diesem Wochenende vom 11. und 12. Januar ist die letzte Gelegenheit, im Kunstmuseum Moritzburg in Halle eine sensationelle Ausstellung zu sehen. Es handelt sich um die Rekonstruktion der ersten Sammlung hochkarätiger Meisterwerke von Bauhauskünstlern des Kunstmuseums Moritzburg. Bis 1933 galt diese Kollektion als eine der führenden Deutschlands, bis sie im Sommer 1937 durch Beschlagnahme von 147 „entarteten“ Werken ihrer Bedeutung beraubt wurde. Zwar ist die Zahl der verlorenen Bilder im Vergleich mit anderen Museen nicht allzu hoch, aber es betraf den Kern des Ausstellungsbestands, weshalb der Verlust nicht auszugleichen war. Immerhin gelang es dem Museum, 15 Werke zurückzukaufen.

Die aktuelle Schau zeigt 40 der beschlagnahmten Kunstwerke als Leihgaben von öffentlichen und privaten Sammlungen. Gemeinsam mit den 300 nicht konfiszierten Werken gewinnt der Besucher einen guten Eindruck von der ursprünglichen Sammlung. Wirklich alle Bauhauskünstler, bekannte und unbekannte, scheinen vertreten zu sein, mit Gemälden, Aquarellen oder Zeichnungen.
Der Genuss wird erhöht durch die außergewöhnlich gelungene Präsentation. Die Besucher sehen beim Rundgang mittels Wanddurchbrüchen die Bilder aus immer neuen, überraschenden Perspektiven.

Für mich war der absolute Höhepunkt der rekonstruierten Sammlung die temporäre Wiedervereinigung von sieben der einst elf Gemälde des Halle-Zyklusses von Lyonel Feininger. Sie nebeneinander zu sehen ist wirklich sensationell. Außerdem werden eine Reihe von vorbereitenden Skizzen gezeigt, die Feininger während eines Ostseeurlaubs als Vorstudien anfertigte. Es ist ein einmaliger Einblick in die Werkstatt des Malers.

Das herausragende Gemälde des Hallenser Domes konnte die Stadt Halle zurückkaufen. Zwei andere Gemälde hat es nach München und Mannheim verschlagen, wohin sie leider nach Ausstellungsschluss wieder zurückkehren müssen. Man wünscht sich, sie könnten als Dauerleihgaben in Halle bleiben. Das besondere Licht und die kunstvoll verschobene Perspektive machen Feiningers Gemälde nicht nur unverwechselbar, sondern einmalig.
Weiter hinten ist der Künstler noch mit einem Gemälde seiner Lieblingskirche in Gelmenroda zu sehen und mit einer Straßenansicht, deren eher dröge Anmutung durch seine spezielle Malweise ins Zauberhafte gedreht wird.

Allein für Feininger lohnt sich auch eine längere Anfahrt nach Halle. Aber Klee, Nolde, Kandisky, Kokoschka, Heckel, Schlemmer und Grosz sind auch noch da.
Wer es an diesem Wochenende nicht schafft, sollte sich schon mal den März vormerken. Dann wird Toulouse-Lautrec gezeigt. Nach der hohen Qualität dieser Ausstellung darf man gespannt sein, wie dieser Ausnahmekünstler präsentiert wird.

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Geschichte

30 Jahre Friedliche Revolution – Siebenundzwanzigster Dezember 1989

Ursprünglich veröffentlicht auf vera-lengsfeld.de am 27.12.19

Der Zentrale Runde Tisch tritt zum vierten Mal zusammen. Wieder ist die Auflösung der Staatssicherheit Thema, die von der Regierung Modrow trickreich hintertrieben wird. Schließlich wird ein Beschluss angenommen, der die Bildung neuer Geheimdienste bis zur Wahl am 6. Mai untersagt.

Diese Auseinandersetzung zeigt das schier unlösbare Problem des Runden Tisches. Auf der einen Seite die in der Revolution entstandenen neuen Gestaltungsansprüche der Oppositionsgruppierungen, auf der andern Seite der Versuch der SED, mittels des Runden Tisches ihre bröckelnde Macht zu stabilisieren. Dafür will sie auch die Bürgerbewegung instrumentalisieren.

Die SED bringt am Runden Tisch einen von Ministerpräsident Modrow angeregten „Entwurf einer Ordnung über die Tätigkeit von Bürgerkomitees“ ein. Darin wird behauptet, dass die Regierung die Bürgerbewegung unterstütze. Es könnten sich allerdings nur Bürgerkomitees gründen, die an „die Verfassung, die Gesetze und andere Rechtsvorschriften“ gebunden seien. Sie sollten eine „Sicheitsheitsgemeinschaft“ mit der „Volkspolizei und den anderen zuständigen Organen“ bilden und „kommunale Probleme und Anliegen der Bürger gemeinsam mit den dafür zuständigen staatlichen Organen“ bearbeiten.
„Die Handlungsfähigkeit der örtlichen Volksvertretungen, ihrer Räte und anderer Staatsorgane muss gewährleistet bleiben.“ In Konfliktfällen sollten die „übergeordneten Staatsorgane“ das letzte Wort haben.

Im Klartext: Modrow versuchte mit diesem Coup die Bürgerrechtsbewegung in eine Art Neuauflage der Nationalen Front zu locken, die der SED vierzig Jahre zu Diensten war und erfolgreich zu ihrer Machtsicherung beigetragen hatte. Allerdings war der Entwurf in einer Sprache abgefasst, der allzu sehr an die alte SED erinnerte, so dass seine Annahme durch den Runden Tisch scheiterte.
Nur die SED stimmte ihrem Text zu. Nicht einmal die Blockparteivertreter wollten dafür ihre Hand heben. Die Opposition machte noch einmal unmissverständlich klar, dass sie auf einer öffentlichen Kontrolle der Regierung bestand. Dagegen machten Lothar de Maizière von der CDU und Lothar Bisky von der SED geltend, dass ein „Vetorecht“ des Runden Tisches zur Regierungspolitik die Lage im Land „destabilisieren“ könnte.

Es wurde dennoch beschlossen, dass alle Gesetzes- und Regierungsvorlagen dem Runden Tisch vorgelegt werden müssten. Unklar war, ob Ministerpräsident Modrow sich daran halten würde.

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Geschichte

30 Jahre Friedliche Revolution – Zweiundzwanzigster Dezember 1989

Ursprünglich veröffentlicht auf vera-lengsfeld.de 22.12.19

Unter großem Jubel wird das Brandenburger Tor in Berlin geöffnet. Nun kann der Verkehr ungehindert von West nach Ost fließen, mitten durch
das Symbol der Trennung.

In Rumänien gehen die Straßenkämpfe weiter. Sie dehnen sich auf das ganze Land aus. In Bukarest kommt es mitten im Stadtzentrum zu einem wahren Blutbad, nachdem Securitate-Einheiten schwere Waffen gegen zehntausende Menschen eingesetzt hatten. Ein Friedhof der Dezember-Gefallenen zeugt heute in der rumänischen Hauptstadt von diesem Verbrechen. Allerdings fühlen sich die Angehörigen der Opfer heute von der Gesellschaft im Stich gelassen. Auf dem Höhepunkt der Kämpfe verhängt Ceaușescu den Ausnahmezustand im ganzen Land.

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Buch/Filmkritik

Robert Harris Blick in unsere Zukunft: Der zweite Schlaf

Ursprünglich veröffentlicht auf vera-lengsfeld.de am 21.12.19

Am Spätnachmittag des 9. April 1468 suchte ein Reiter seinen Weg durch das wilde Wessex. Sein Bischof hatte den jungen Mönch losgeschickt, um einen verstorbenen Pfarrer in einem abgelegenen Dorf zu beerdigen. Er kommt schließlich in dem Pfarrhaus an, wo er nicht nur den toten Pfarrer, sondern jede Menge verbotene Artefakte und Bücher vorfindet, darunter die zwanzigbändige Ausgabe der Forschungsergebnisse der geächtetenen „Gesellschaft für Altertumsforschung“. Als er noch ein Kind war, hatte er der Verbrennung dieser Bücher auf dem Scheiterhaufen von Essex beigewohnt.

Neben dem Bücherregal steht eine Vitrine, die allerlei Antikes enthält: Kugelschreiber, Plastikpuppen, seltsame, wie Birnen geformte Gläser, die ein Loch am Ende haben, das mit spiralförmigen Rillen verziert ist und ein schwarzes handtellergroßes Gerät, dünner als sein kleiner Finger, auf dem ein angebissener Apfel eingraviert ist. Erst da, im dritten Kapitel, wird dem Leser auf diese Wiese mitgeteilt, dass die Handlung nicht in unserem Mittelalter spielt, sondern im Jahr 800 nach der apokalyptischen Katastrophe, die eine ganze Zivilisation ausgelöscht hat.

Reste dieser Zivilisation findet man überall im Land. Man kann kaum einen Garten umgraben, ein Feld pflügen oder einen Graben ausheben, ohne auf menschliche Skelette und ihre Hinterlassenschaften zu stoßen. Hauptsächlich ist es Plastik und Glas, was die Zeiten überlebt hat. Metall ist fast vollständig verrostet, der Beton zerbröselt. Von der alten Zivilisation haben nur die steinernen Kirchen überdauert, die den Überlebenden der Katastrophe, von der man nie erfährt, was sie ausgelöst hat, Schutz boten und der Ausgangspunkt für den Aufbau einer neuen Zivilisation wurden.
Mehr als 60 Millionen Menschen sollen vor der Katastrophe in England gelebt haben. Jetzt zählt es etwa sechs Millionen Einwohner, die kaum das 50. Lebensjahr erreichen.

Dem jungen Priester ist beim Anblick all der verbotenen Dinge klar, dass sich der verstorbene Pfarrer der Ketzerei ergeben und streng untersagte Altertums-Forschungen angestellt hat. Er kann aber seine Neugier nicht bezwingen und fängt an, zu lesen. Dadurch erfährt er, dass sich die Nachforschungen des Verstorbenen auf ein Gebiet nahe des Dorfes, genannt der Teufelsstuhl, bezogen haben. Fairfax, so heißt der Priester findet schließlich einen Brief aus der Zeit vor der großen Katastrophe, geschrieben von einem Nobelpreisträger der Physik, der den Zusammenbruch der Zivilisation voraussah und beschlossen hatte, am Teufelsstuhl eine Arche zu errichten, in die er sich mit seiner Familie und seinen Freunden zurückziehen konnte. London, so schrieb er, wäre nur wenige Mahlzeiten vom Verhungern entfernt, man müsste im Ernstfall in abgelegene ländliche Regionen ausweichen, bevor der große Exodus aus den Städten einsetzt.

Harris schildert die repressive Atmosphäre der neuen christlichen Zivilisation, die frühmittelalterlich anmutet, aber ohne die Schönheit auskommen muss, die unser Mittelalter hervorgebracht hat. Nur die Natur hat sich erholt und umgibt die Menschen mit einer Vielzahl von Pflanzen und Tieren. Die Legenden der untergegangenen Zivilisation sind schwach, vor allem leben sie im Dorf fort, in den Spielen der Kinder, denen der Pfarrer erzählt hat, dass die Vorfahren sich nicht nur mit unglaublich schnellen Gefährten fortbewegten, sondern auch fliegen konnten. Wie sie das angestellt haben, weiß man nicht. Sie waren unglaublich gesund, wurden bis zu hundert Jahre alt und gingen doch unter.

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit macht sich ein kleiner Trupp um Fairfax zum Teufelsstuhl auf, um dort nach der vermuteten Arche zu graben. Bevor sie aber den eigentlichen Bunker finden, entdecken sie ein Massengrab und eine Hinrichtungsstätte. Im Bunker finden sie dann tatsächlich das Skelett des Nobelpreisträgers, dessen Medaille neben seinem Sarg auf einem Etwas lag, das wie ein zerfallenes Kissen aussieht. In der Grabkammer sind rund um den Sarg Geräte mit dem angebissenen Apfel ausgestellt, Zeichnungen an der Wand zeigen, dass der Arche-Erbauer wie ein Gott verehrt wurde.

Ganz zum Schluss, kurz bevor eine Schlammlawine den Bunker unter sich begräbt, kommt Fairfax die Erkenntnis, dass die Hingerichteten die ursprünglichen Dorfbewohner waren, die von den London-Flüchtlingen als Nahrungs-Konkurrenten beseitigt wurden. Als sich die Verhältnisse nach der Katastrophe normalisiert hatten, nahmen die Flüchtlinge das Dorf in ihren Besitz. Die Bewohner, die Fairfax dort kennengelernt hatte, waren ihre Nachfahren.

Robert Harris, der seit seinem Erstling “Vaterland” nur internationale Bestseller  geschrieben hat, ist wieder ein packendes Buch gelungen. Ich konnte es kaum aus der Hand legen. Vor allem macht die Beschreibung, was von unseren großartigen Errungenschaften eigentlich übrig bleibt: Plastik und Glas, sehr nachdenklich. Von den Bauten, die heute in den Himmel wachsen, wäre in achthundert Jahren nichts mehr zu sehen. Nur die Kirchen überdauern. Harris zeigt, was das Ergebnis der derzeitigen Politik, der ideologischen Destabilisierung der Stromnetze durch „erneuerbare Energien“ , verbunden mit der wachsenden Gefahr eines großflächigen, mehrtägigen Blackouts, sein könnte. Ein Buch für alle, die mutig genug sind, die trügerische Komfortzone zu verlassen und möglichen Gefahren ins Auge zu sehen.

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Geschichte

30 Jahre Friedliche Revolution – Siebzehnter Dezember 1989

Ursprünglich veröffentlicht auf vera-lengsfeld.de 17.12.19

Der SED-Parteitag geht zu Ende. Mit dem Beschluss, die Partei zu erhalten, erfüllen sich die Hoffnungen des Parteiapparats und der Hardliner. Die ehrlichen Reformer sind gescheitert. Eine Grußadresse von Gorbatschow wird verlesen, die einer Abmahnung gleicht. Die Genossen sollten sich um Korruption, Lügen und Doppelmoral kümmern. Dabei gehen die Lügen erst richtig los, zuvorderst die von der geläuterten, reformierten, erneuerten Partei, die ein ehrliches Verhältnis zu ihrer Vergangenheit entwickelt habe.
Auch bei der Opposition gibt es eine Veranstaltung, die in eine Art Parteitag mündet: Der Demokratische Aufbruch erklärt sich zur Partei.

Es ist Sonntag. Für die Bürger von Potsdam gibt es eine Vorweihnachtsüberraschung: Der Bundespräsident Richard von Weizsäcker besucht unangekündigt mit Ministerpräsident Modrow das alljährliche Weihnachtssingen in der Nikolaikirche.

In Rumänien, speziell in Temeswar, geht es weniger beschaulich zu. Etwa 10 000 Einwohner unterschiedlicher Nationalität und Religionszugehörigkeit fordern die Einhaltung der menschenrechte und die Abschaffung von Ceaușescus Tyrannei. Nachdem Staatschef Ceaușescu auf einer Telefonkonferenz bekräftigt hat, dass Schusswaffen gegen die Demonstranten eingesetzt werden sollen, geht die Schießerei in der Stadt verstärkt weiter. Wieder gibt es zahlreiche Tote und Verletzte.

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Kultur

Wenn die Wasser Balken hätten

Ursprünglich veröffentlicht auf vera-lengsfeld.de 15.12.19

Das ist der Titel der musikalischen Autobiografie des Liedermachers Stephan Krawczyk, die als sein Beitrag zum 30. Jahrestag des Mauerfalls auf den Markt kam. Seine besten Titel der letzten dreißig Jahre sind auf dieser CD vereint, die nicht nur Hörgenuss, sondern auch jede Menge Weisheit und damit Denkanstöße bietet.Stephan Krawczyk startete in der DDR als zorniger junger Mann, der bald nur noch in den Räumen der evangelischen Kirche auftreten durfte und dort zuverlässig für volle Häuser sorgte. Seine Karriere endete abrupt, als er im Januar 1988 am Vorabend der alljährlichen Kampfdemonstration der SED zu Ehren der ermordeten Kommunisten Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg den inzwischen berühmt gewordenen Satz von Luxemburg „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“ aus der Gesamtausgabe heraussuchte und damit der Gegendemonstration der Bürgerrechtler einen unschlagbaren Slogan gab.Krawczyk, der auch selbst an der Demonstration teilnahm, wurde gemeinsam mit 104 anderen Bürgerrechtlern verhaftet und ins Zentrale Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit nach Berlin-Hohenschönhausen gebracht. Von dort wurde er, auf Wunsch seiner damaligen Frau Freya Klier, gemeinsam mit ihr in den Westen abgeschoben. Klier und Krawczyk waren nur die Ersten. Alle anderen Inhaftierten, mit ausnahmen zweier Minderjähriger, folgten ihnen innerhalb von zehn Tagen. Aus den Stasiakten wissen wir, dass es sich bei der Verhaftung und späteren Abschiebung von Bürgerrechtlern um einen „Enthauptungsschlag“ gegen die Opposition ging, die sich seit Beginn der 80er Jahre in den Räumen der Evangelischen Kirche entwickelt hatte.

Krawczyk, unverhofft im Westen gelandet, verstummte erst einmal für ein Vierteljahr. Dann begann er wieder zu schreiben. Sein erstes Lied: „Komm über mich im Unterholz“ ist keine wütende Abrechnung mit dem SED-Regime, sondern ein anrührendes Liebeslied für seine Frau, der er gefolgt war. „Ich lieb dich doch, du kannst mich noch vorm Totentanz erretten, ich les´ dir dann beim Abendmahl vom Unterkleid die Kletten…”

Das älteste Lied der CD ist von 1982. „Der Clown“, geschrieben vom Leipziger Lyriker Andreas Reimann, ist dennoch brandaktuell. „Zum Teufel, der geht auf zwei Beinen herum – und das auch noch vor Publikum… er mag Menschen mehr als den eigenen Hund.. zeigt noch im hellsten Licht sein Gesicht und bricht statt Beischlaf Liebe vom Zaun – ist eben ein Clown”. So ein Clown ist heute wieder eine Provokation. Krawczyks Neueinspielung ist zurückhaltender als frühere Versionen, man könnte es auch resignierter nennen.Im ersten Lied „Bitte“ singt er „Hüte deinen guten Kern, sei das Unteilbare“. Diese Aufforderung findet sich unterschwellig in allen 18 Liedern wieder. Mit Krawzcyks sanfter, erotischer Stimme wirkt diese Aufforderung unwiderstehlich. Dazu die musikalische Begleitung in subtilen Arrangements, von Gitarre- und Akkordeon dominiert. Alle Instrumente werden von Krawczyk selbst gespielt.

Sehr eindringlich ist das eher politische „Wieder stehen“, der Hit in den Kirchen der DDR,. „Wer wieder stehen will, muss sich erst widersetzen“, sagte Krawczyk sein Lied damals an. Das trifft auch heute noch zu, denn: „Leben ist von kurzer Dauer, keine Zeit mehr zum Verzicht“.

Am berührendsten sind seine Liebeslieder. Das unendlich zarte Lied an den Mond – „das All ist unser Liebesnest“. Oder das fröhliche „Frühling“: „Unsrer Hüfte frohes Schwingen, lässt die Vöglein lauter singen“. Mein Lieblingslied ist „Heute“- „Nimm mich heut in Deine Arme, heute kannst Du mich verstehen.“ Auch wer gerade über keine aktuelle Liebe verfügt, kann sich an frühere Lieben erinnern und ist getröstet, weil niemand, der auch nur einmal in seinem Leben zur Liebe fähig war, umsonst gelebt hat.

Krawczyk singt seine Lieder, „was nicht heißt, dass es wem nützt“.

Aber: „Wenn wir uns mit uns begnügten und uns wärmten, wenn wir frier´n, könnte ich mit meinen Liedern, hilfreich eure Haut berührn.“

Das kann er, man muss ihm nur zuhören. Die CD wäre übrigens ein gutes Weihnachtsgeschenk, nicht nur, aber vor allem für die Liebsten.

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Geschichte

30 Jahre Friedliche Revolution – Zwölfter Dezember 1989

Ursprünglich veröffentlicht auf vera-lengsfeld.de 12.12.19

Endlich werden nach einem Amnestiebeschluss der Regierung die meisten politischen Gefangenen entlassen. Da es in der DDR aber angeblich keine politischen Gefangenen gibt, sondern nur Kriminelle, ist es eine allgemeine Amnestie, die auch Dieben und Betrügern zugute kommt. Ausgenommen sind Kapitalverbrechen und andere schwere Delikte. Nicht betroffen von der Amnestie ist ein Mann aus Thüringen, der in der Haftanstalt Brandenburg wegen mehrfachen versuchten Mordes in Zusammenhang mit einem versuchten bewaffneten Grenzdurchbruch sitzt.
Er ist der Sohn eines Parteisekretärs und einer Staatsanwältin. Als Kind war er immer wieder von zu Hause abgehauen. Seine Eltern ließen ihn in den Jugendwerkhof einweisen. Als er zu alt für den Jugendwerkhof geworden war, wollten, als ihr Sohn wieder wegen versuchter Republikflucht verhaftet worden war, seine Eltern eine dauerhafte Lösung.

Eines Nachts wurde der junge Mann überraschend aus seiner Zelle geholt und in den Verhörtrakt gebracht. Hier lag ein fertiges Geständnis über einen geplanten bewaffneten Grenzübertritt bereit. Zuerst weigerte sich der Mann, das zu unterschreiben. Irgendwann wurde er von seinem Vernehmer überraschend mit Benzin übergossen. Dann zündete sich der Offizier eine Zigarette an und fragte: „Unterschreibst Du nun, oder soll ich sie fallen lassen?“ Der Mann unterschrieb. Er hat mir seine Geschichte selbst erzählt.
Auf dem Dach der Justizvollzugsanstalt Brandenburg, auf dem sich rebellierende Häftlinge verschanzt hatten, als sie im Frühjahr 1990 die frisch gewählte Regierung der DDR auf ihr Schicksal aufmerksam machen wollten.
Ich war von den Häftlingen als Vermittlerin angefordert worden. Der Mann kam übrigens erst 1991 nach längerer Überprüfung frei, weil sein Gnadengesuch an die Volkskammerpräsidentin Dr. Sabine Bergmann-Pohl, die gleichzeitig Staatsoberhaupt war, abgelehnt wurde.

Zu den unbekannt gebliebenen Tatsachen gehört, dass etwa 30 % der Insassen der Jugendwerkhöfe der DDR von Funktionärskindern bevölkert waren, die mit ihrem Elternhaus nicht zurecht kamen.